Belarus
Sharon Adler: Du wurdest 1998 in Belarus geboren und hast mit deiner Familie dort gelebt, bis ihr 2005 als sogenannte
Hanna Veiler: Tatsächlich kann ich mich noch ganz gut an meine Kindheit in Belarus erinnern. Wir sind ausgewandert, als ich sieben Jahre alt war. Dass ich in einem jüdischen Kindergarten war und dass ich ein jüdisches Leben hatte, habe ich in meiner persönlichen Erzählung lange bis ich fünfzehn war und begonnen habe, auf Machanot
Was ich besonders schön und einprägsam finde: Als mein Großvater vor ein paar Jahren gestorben ist, habe ich mit meiner Großmutter alte Fotos sortiert. Darunter war ein Foto von mir als Zweijährige im jüdischen Kindergarten beim Anzünden der Schabbat-Kerzen. Im Hintergrund steht eine Chanukkia. Ich weiß noch, wie ich gemeinsam mit der Betreuerin auf den Finger puste, weil ich ihn mir dabei verbrannt habe. In diesem Moment habe ich verstanden, dass diese Erinnerung an Chanukka und Schabbat die früheste in meinem Leben ist.
Ich habe das eine Zeitlang verdrängt und immer geglaubt, dass meine jüdische Identität – zumindest die positive, die religiös geprägte Identität – erst mit der Jugendarbeit in Deutschland entstanden ist. Es war für mich schön zu sehen, dass es schon immer da war.
Sharon Adler: Möchtest du etwas zu den Shoah-Erfahrungen in der Familie erzählen, wie hat sie überlebt? Welchen direkten Einfluss hatten Trauma-Erfahrungen auf deine Großmutter und Mutter? Und wie geht deine Generation, wie gehst du damit um?
Hanna Veiler: Vor allem meine Großmutter väterlicherseits spielt die wichtigste Rolle, wenn es um mein Jüdischsein geht. Sie ist, was das angeht, der prägendste Mensch in meinem Leben. Sie ist diejenige, die die Erinnerung in der Familie aufrechterhält. Und das schon immer. Sie hat Interviews mit ihrer Familie, mit ihrer Schwiegermutter und mit der Familie von meinem Opa geführt. Sie hat es geschafft, während des Holocausts in der Ukraine ihre drei Kinder zu retten. Sie ist nach dem Fall der Sowjetunion in die Archive gegangen und hat unsere Familiengeschichte aufgearbeitet. Sie hat über dreihundert Namen an Yad Vashem geschickt und Texte publiziert. Sie ist ein wandelndes Museum, sie hat alles archiviert, was irgendwie möglich ist, Briefe aus der Familie aus den Dreißigerjahren, die auf Jiddisch sind.
Dass solche Dinge den Holocaust und die Sowjetunion und die Auswanderung nach Deutschland überlebt haben, zeigt ganz deutlich, was für eine Art Mensch sie ist. Sie ist die erste jüdische Aktivistin in meinem Leben. Jedes Mal, wenn ich Zeit mit ihr verbracht habe, und das war sehr oft und ist es heute auch noch, bekomme ich von ihr eine Vorlesung über jüdisches Leben, über jüdische Geschichte, jüdische Kultur und Literatur, aber auch über den Holocaust und den Antisemitismus in der Sowjetunion. Das ist etwas, was vor allem in meiner Kindheit sehr prägend und präsent war. Ich wusste schon im Alter von drei, vier Jahren, was der Holocaust war. Das hat immer eine Rolle in meiner Identität und in meinem Leben gespielt.
Sharon Adler: Durch den Paragraf 5
Hanna Veiler: Die Familie meines Vaters und die Familie meiner Mutter lebten sehr unterschiedlich. Die Familie meiner Mutter war assimiliert und nicht religiös. Meine Uroma mütterlicherseits war nicht jüdisch, und meine Oma nahm ihren russischen Nachnamen an, um nicht mit dem Namen Klugmann als jüdisch erkennbar zu sein. Dadurch konnten sie in der Sowjetunion viel besser leben. Meine Großeltern waren während der Zeit der Sowjetunion sehr pro-sowjetisch. Sie hatten gute Jobs und Positionen, waren wirtschaftlich eher privilegiert und haben nicht so sehr unter Defiziten gelitten.
Mein Opa väterlicherseits hat als Kind mit seiner Mutter im Geheimen für das ganze Viertel Mazzot gebacken. Aber das Religiöse endet mit der Generation meiner Urgroßeltern. Ab meinen Großeltern ist niemand mehr religiös. Die Seite meiner Mutter hat das Judentum abgelegt, obwohl sie natürlich eine jüdische Identität hatte. Meine Mutter ist in den Neunzigern mit dem Fall der Sowjetunion in jüdische Ferienlager gefahren, aber der emotionale Bezug war nicht so sehr da wie auf der Seite meines Vaters.
Mein Opa ist Überlebender des Holocausts. Und dann ist da meine Oma, die eine starke, stolze jüdische Identität hat, und es zu ihrer Aufgabe gemacht hat, die Geschichten und die Erinnerung weiterzugeben.
Ich komme aus Wizebsk, einer sehr jüdischen Stadt. Die Generation meiner Urgroßeltern war orthodox. Sie blieben auch nach der Shoah fromm, doch nur im Geheimen. Man durfte es nicht nach außen zeigen. In den Erzählungen meiner Großmutter hatten ihre Eltern getrennte Töpfe für milchig und fleischig,
Sharon Adler: War die Diskriminierung ein Grund für die Auswanderung nach Deutschland?
Hanna Veiler: Natürlich waren auch der Antisemitismus und die religiöse Verfolgung in der Sowjetunion wichtige Punkte für die Auswanderung, aber ich glaube, die meisten kamen nicht aus dem Grund, in Deutschland ihr Judentum frei praktizieren zu können. Man hatte ja über Generationen keine richtige religiöse Identität und hat sich nicht mehr so sehr als jüdisch verstanden, denn es wurde einem weggenommen. Und man hat sich mühsam Existenzen aufgebaut. Viele kamen aus wirtschaftlichen Gründen. Sie wollten ein besseres Leben, eine bessere Zukunft, eine bessere Bildung und bessere Möglichkeiten für ihre Kinder. Und sie wollten Sicherheit und Stabilität.
Die Zeit der Auswanderung
Sharon Adler: Wie habt ihr euch auf die Auswanderung vorbereitet?
Hanna Veiler: Mein Vater hat 1997 einen Antrag auf Auswanderung gestellt, das war ein Jahr, bevor ich geboren wurde. Bis wir die Bewilligung bekommen haben, mussten wir acht Jahre warten. Das war nach Bundesländern unterschiedlich geregelt. Wer nach NRW wollte, konnte sofort ausreisen, wer nach Bayern oder Baden-Württemberg wollte, musste länger warten, so wie es bei meiner Familie der Fall war.
Darüber nachzudenken, was das psychologisch mit mir gemacht hat, ist interessant. Meine gesamte Kindheit in Belarus wuchs ich im Bewusstsein auf, wir werden eines Tages auswandern und nach Deutschland gehen. Ich habe darüber gesprochen, auch meine Freunde wussten es. Es stand immer im Raum. Wir warteten nur auf die Bestätigung. Und als der Moment der Auswanderung kam, hieß es irgendwann einfach: „Jetzt packen wir unsere Sachen, morgen ziehen wir nach Deutschland.“ Meine Mutter und ich fuhren mit dem Zug nach Polen, wo mein Vater uns mit einem Mini-Van abgeholt hat.
Deutschland
Sharon Adler: Ab 2005 haben du und deine Familie in Süddeutschland gelebt. Welche Erinnerungen hast du an die erste Zeit?
Hanna Veiler auf die Frage, wie sie das Treffen mit den Angehörigen der Geiseln in Berlin erlebt hat: „Der Moment, in dem zehn Menschen vor dir sitzen, von denen man weiß, dass sie das Massaker am 7. Oktober gerade so überlebt haben und dass ihre Liebsten weiterhin in Gefangenschaft der Hamas sind und teilweise sexuell missbraucht werden, keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung und sauberem Wasser haben: Das macht sehr viel mit einem.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Hanna Veiler auf die Frage, wie sie das Treffen mit den Angehörigen der Geiseln in Berlin erlebt hat: „Der Moment, in dem zehn Menschen vor dir sitzen, von denen man weiß, dass sie das Massaker am 7. Oktober gerade so überlebt haben und dass ihre Liebsten weiterhin in Gefangenschaft der Hamas sind und teilweise sexuell missbraucht werden, keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung und sauberem Wasser haben: Das macht sehr viel mit einem.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Hanna Veiler: Der Abschied von meinen Großeltern in Belarus war sehr schlimm für mich. Und es dauerte bei ihnen zwei Jahre länger, bis sie ausreisen durften. Sie hatten den Ausreiseantrag später als wir gestellt. Diese ersten zwei Jahre in Deutschland waren nicht einfach, auch für ein Kind nicht. Es war die totale Veränderung meiner Lebensrealität innerhalb nur eines Tages. Man muss sich das mal vorstellen, ich kannte nur den postsowjetischen Plattenbau, und dann ziehen wir in eine Kleinstadt im Schwarzwald. Aus meinem Kinderzimmerfenster sah ich grüne Hügel mit Schafen. Ich sprach kein Deutsch, die Kinder in der Schule haben sich über mich lustig gemacht. Ich ging in eine Klosterschule, ein Gebäude aus dem 13. Jahrhundert, und wurde von Nonnen unterrichtet.
Sharon Adler: Wann habt ihr Kontakt zur Jüdischen Gemeinde eurer Stadt aufgenommen?
Hanna Veiler: Wir sind schon in den ersten Tagen Gemeindemitglieder geworden. Die Gemeinde war der erste Anlaufpunkt. In den ersten zwei Jahren waren wir dort immer wieder mal zu Feiern wie Chanukka und Purim, aber meine Eltern haben relativ schnell verstanden, dass sie sich da nicht so wohl fühlen. Das war nichts für sie. Deswegen gingen wir auch nicht mehr hin, bis meine Großeltern nach Deutschland kamen. Meine Oma wurde in der Gemeinde für gute zehn Jahre in den Seniorenclubs und im Kultur- und Literaturclub aktiv. Daher war ich als Kind auch immer wieder mal da, eine Zeitlang war ich in einem Theaterclub für Kinder, aber ein wichtiger Ort war es für mich nicht. Vor allem war es kein Ort, der für mich religiös konnotiert war.
Gleichzeitig hatte ich ab der sechsten Klasse jüdischen Religionsunterricht bei einem jüdischen Geschichtslehrer unserer Schule, der einen Judaistik-Abschluss hatte. Für mich war es ganz normal, dass ich jüdischen Religionsunterricht hatte, während die anderen Ethikunterricht oder katholische oder evangelische Religionslehrer hatten. Aber trotzdem fing es für mich erst wirklich an, eine Rolle zu spielen, als ich mit fünfzehn das erste Mal auf eine Machane gefahren bin. Vorher war das alles Theorie, das war ein Schulfach, das ich bestehen musste. Für den religiösen Teil habe ich mich nie besonders interessiert. Ich war gut, wenn wir über jüdische Geschichte und Kultur gesprochen haben, weil das etwas war, was ich in die Wiege gelegt bekommen habe.
Vor allem in den ersten Jahren in Deutschland hatte ich eine wenig ausgeprägte jüdische Identität. Meine Eltern und meine Großeltern haben noch nie Schabbat gefeiert, bis heute. Sie sind Gemeindemitglieder, aber das ist eine kulturelle Sache, keine religiöse. Mit dem Umzug nach Deutschland standen erstmal andere Dinge im Vordergrund. Dass wir Deutsch lernen mussten, dass sie ihre Abschlüsse anerkennen lassen mussten.
Sharon Adler: Was haben sie in Belarus beruflich gemacht? Wie kamen sie wirtschaftlich in Deutschland zurecht? Wie würdest du ihre Situation und Stimmung aufgrund der Nicht-Anerkennung von Schul-, Ausbildungs- und Universitätsabschlüssen beschreiben?
Hanna Veiler: Wir lebten in total armen Verhältnissen. Ich kann mich gut daran erinnern, dass meine Schulfreunde in Häusern lebten, die seit Generationen weitervererbt worden sind, während ich mir mit meinen Eltern eine Zwei-Zimmer-Wohnung geteilt habe, wo der Schimmel höher war als ich. Dass wir direkt in eine Wohnung gezogen sind und nicht in einem Auffanglager waren, ist ein krasser Ausnahmefall. Im jüdischen Kindergarten in Wizebsk gab es eine Familie, die ein Jahr vor uns nach Deutschland ausgewandert ist. Und diese Familie zog nach Baden-Baden. Das war der ausschlaggebende Punkt, warum auch wir dorthin gingen. Sie haben uns geholfen – auch mit Hilfe der Jüdischen Gemeinde –, eine Wohnung zu finden.
In meiner Familie spielt Bildung schon immer eine große Rolle. Natürlich auch aufgrund der Zustände. Um in der Sowjetunion zurechtzukommen, musste man der Beste sein. Mein Vater hat Medizin studiert, obwohl er Englischlehrer werden wollte. Aber er wusste, dass er als Jude in irgendein Dorf in Sibirien geschickt wird, um dort zu unterrichten. Das heißt, er musste etwas Anderes machen. Und er hat es geschafft. Er hat die Schule mit einem guten Diplom, dem höchsten Abschluss, den man haben kann, abgeschlossen, hat aber dann mit der Perestroika – weil man als Arzt nur sehr wenig verdient hat und er eine Familie ernähren musste – in einer Tourismus-Agentur gearbeitet. Das hatte auch einen großen Einfluss auf mich, weil ich, seit ich klein bin, mit Reisegruppen in Bussen durch Europa getourt bin und gesehen habe, wie mein Vater das Ganze anleitet.
Ich glaube, dass ich heute eine Aktivistin bin und so vieles organisiere, kommt auch daher. Sein Vater war Holocaust-Überlebender, der nach dem Krieg in einer Fabrik arbeitete, um Geld zu verdienen. Seine Großmutter war Lehrerin. Sie lebten in bescheidenen Verhältnissen. Meine Großmutter mütterlicherseits war die leitende Ärztin der Gynäkologie. Mein Opa ist Ingenieur.
Als wir nach Deutschland kamen, verstand mein Vater schnell, dass er sein Medizin-Diplom anerkennen lassen muss. Es ist unglaublich, dass er es innerhalb von zwei Jahren geschafft hat, nicht nur sein ganzes Studium zu wiederholen – in einem Beruf, in dem er seit über zwanzig Jahre nicht mehr gearbeitet hatte –, sondern auch die Prüfung zu bestehen und Deutsch zu lernen. Ich erinnere mich an Zeiten, da war er Anfang vierzig, als er sein Praktikum mit Menschen absolvieren musste, die gerade das Medizinstudium beendeten. Meine Familie wurde karrieretechnisch gute fünfzehn Jahre zurückgeworfen. Das spürt man bis heute. Wenn ich jemandem sage, dass meine Eltern Ärzte sind, denken alle, wir besäßen drei Häuser oder Autos.
Mein Vater arbeitet als Hausarzt in einer Praxis, und alle Geflüchteten, die kein Deutsch sprechen, alle Menschen, die jemanden brauchen, der ihnen zuhört, gehen zu ihm. Er ist ein halber Sozialarbeiter in seinem Job. Meine Mutter ist auch Ärztin und unterstützt ihn in der Praxis. Was vielleicht die Baseline ist: Ich bin wahnsinnig stolz auf meine Familie, weil ich weiß, wie hart sie alle gearbeitet und dafür gekämpft haben, ihre Diploma anerkennen zu lassen. Das bedeutete für mich als Kind aber, dass meine Eltern während meiner gesamten Grundschulzeit nicht präsent waren. Sie mussten ihre Karrieren aufbauen und den Lebensunterhalt der Familie sichern.
Ich war in den ersten Jahren in Deutschland die meiste Zeit entweder allein oder, als meine Großeltern dann nachkamen, immer bei ihnen. Ich kann kochen, seit ich sieben bin. Ich bin das klassische Beispiel von der ältesten Tochter einer Migrant*innenfamilie. Bis heute kümmere ich mich um die bürokratischen Angelegenheiten der Familie. Alles, was Übersetzungsarbeit benötigt, mache ich. Mindestens einmal im Monat fahre ich aus Berlin zu ihnen, setze mich an den Papierkram, gehe mit meinen Großmüttern zu Ärzten und solche Dinge. Das mache ich auch, seit ich sieben bin. Ich glaube, es ist eine strukturelle Sache. Alle meine postsowjetischen jüdischen Freundinnen und Freunde haben diese Familienstrukturen.
Sharon Adler: Wie beurteilst du die Situation jüdischer Einwanderinnen und Einwanderer seit den 1990er-Jahren bis heute vor dem Hintergrund fehlender Rentenansprüche und der Tatsache, dass viele jüdische Zuwanderinnen und Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion von Altersarmut betroffen sind?
Hanna Veiler: Für mich ist dieses Thema eines der schmerzvollsten, mit dem ich mich in meinem jüdischen Berufsleben auseinandersetzen muss. Wir sprechen über Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben, die sich Existenzen aufgebaut haben. Und die alle Hoffnung in die Bundesrepublik gesetzt haben. Es ist ein strukturelles Problem.
Die Erzählung von den
Diese Menschen, darunter Shoah-Überlebende, leben hier heute in Armut. Die Erniedrigung, der soziale Abstieg, die Isolation von der Gesellschaft, weil sie die Sprache nicht sprechen, macht, dass sie den Respekt vor sich selbst verlieren, weil sie das Gefühl haben, dass man dort jemand war und hier ein Niemand und nichts wert ist. Das sind tragische Geschichten, und die Gemeinden sind voll davon.
Das verstehen die meisten nichtjüdischen Menschen in Deutschland nicht. Auch politisch. Ich glaube, das hat auch etwas damit zu tun, wie sie sich Jüdinnen und Juden vorstellen. Abgesehen von den antisemitischen Narrativen denken viele an großbürgerliche und wohlhabende Familien. Die Realität der ukrainischen und russischen Senior*innen sieht aber anders aus. Das ist ein wahnsinnig schmerzhafter Punkt für unsere Community. Weil das Verhältnisse sind, die so viele von uns zu Hause haben. Da hilft keine Einmalzahlung von 2.500 Euro.
Postsowjetische Erzählungen und Erinnerungskultur
Sharon Adler: Inwieweit hat deiner Meinung nach – aus innerjüdischer Sicht – die Stellung der Kontingentflüchtlinge in den Gemeinden seit den 1990er-Jahren bis heute eine Entwicklung durchlaufen? Gibt es eine Art von Gleichberechtigung und Akzeptanz?
Hanna Veiler: Es hat sich verbessert. Die jungen Menschen, die jetzt Führungspositionen einnehmen, sind zum größten Teil postsowjetisch. Das war natürlich nicht immer so. Postsowjetische Jüdinnen und Juden stießen auf alteingesessene Strukturen. In der Führungsriege in der jüdischen Welt sind auch heute noch diese Familien in den Vorständen der Gemeinden, aber das verändert sich. Es ist eine demografische Frage. Aber es gibt natürlich auch Kämpfe innerhalb der Community. Antislawischer Rassismus ist etwas, das sich historisch wiederholt. Das ist eine Debatte, die es in den 1920ern mit der Einwanderung der Ost-Juden gab und die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufkam, als die Überlebenden aus Osteuropa und aus Polen in Deutschland in den
Aber es gibt etwas, das ich in meiner JSUD-Zeit verstanden habe: Aus der innerjüdischen Sicht betrachtet, brauchte es den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine für meine Generation dafür, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen. Das war ein Moment, in dem deutlich wurde, dass es die jüdische Gemeinschaft in Deutschland bis heute prägt.
Kaum eine andere Community hat es so schnell geschafft, ihre gesamte Arbeit auf Arbeit mit Geflüchteten umzustellen wie wir. Und das hat einen Grund. Weil wir einen direkten Bezug zu dieser Region haben. Aber auch durch unsere Strukturen und Erfahrungen wissen wir, wie wir in kurzer Zeit das Ankommen von sehr vielen Menschen organisieren können. Das ist ein Pluspunkt.
Mit der JSUD waren wir im Winter 2024 für eine Woche in Vilnius, Kaunas und Riga und hatten ein Vorbereitungsseminar, wo wir uns genau mit dieser Thematik beschäftigt und wo wir einen Raum geöffnet haben, um darüber zu sprechen, was es für uns geografisch bedeutet, dass unsere Familien aus der Sowjetunion kommen. Es waren rund zwanzig Leute da, die als Leader in ihren Gemeinden, in ihren Regionalverbänden aktiv sind. Die sich zum ersten Mal mit Fakten zu jüdischen Kontingentflüchtlingen auseinandergesetzt haben. Ich habe allen den besagten Spiegel-Artikel vorgelegt, und keine/r konnte es glauben. Ich glaube, bei vielen hat auch damit ein Prozess begonnen.
Denn obwohl wir die von mir beschriebenen Verhältnisse zu Hause und überall haben und sie unser Leben prägen – seien es Fragen von Rassismus oder von Altersarmut, weil es bei Weitem nicht alle Eltern geschafft haben, sich ihre Bildungsabschlüsse anerkennen zu lassen –, haben wir kein empirisches Wissen darüber, was dazu geführt hat, dass unsere jüdische Identität so ist, wie sie ist. Dass unsere Gemeinden so aufgebaut sind, wie sie es sind. Dieses historische Wissen fehlt uns. Wir haben kaum Raum gehabt, uns mit dem Antisemitismus in der Sowjetunion auseinanderzusetzen.
Sharon Adler: Mit Blick auf Erinnerungskultur, die Debatte um Migration und die Sichtbarmachung vielfältiger europäischer Identitäten: Bist du der Ansicht, dass die postsowjetische Gruppe und ihre Geschichte im gesamtgesellschaftlichen Diskurs ausreichend wahrgenommen und abgebildet wird?
Hanna Veiler:
Hanna Veiler: „Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist eine mehrheitlich migrantische Community. Die meisten von uns haben Ursprünge in einem anderen Land als Deutschland. Viele Diskurse, die mit Migration zusammenhängen, haben etwas mit uns zu tun“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Hanna Veiler: „Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist eine mehrheitlich migrantische Community. Die meisten von uns haben Ursprünge in einem anderen Land als Deutschland. Viele Diskurse, die mit Migration zusammenhängen, haben etwas mit uns zu tun“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist eine mehrheitlich migrantische Community. Die meisten von uns haben Ursprünge in einem anderen Land als Deutschland. Viele Diskurse, die mit Migration zusammenhängen, haben etwas mit uns zu tun. Seien es Bildungsabschlüsse, Klassismus, rassistische Alltagserfahrungen und so weiter. Das bedeutet, wir brauchen den Platz in Strukturen und in Räumen, wo es um diese Themen geht. Und den haben wir nicht. Weil dieser Teil der Geschichte bis heute unsichtbar bleibt. Ich finde es wahnsinnig schlimm, dass die Debatte darüber nicht existiert oder jedenfalls sehr wenig präsent ist. Die Forderungen sind eigentlich klar. Jüdinnen und Juden müssen in migrantischen Diskursen mitgedacht werden und in migrantischen Bündnissen Platz haben. Nach dem 7. Oktober ist das natürlich sehr viel komplizierter geworden.
Sharon Adler: Was verbindest du persönlich mit den Begriffen Migrationsidentität und Identitätskonflikt? Zuschreibung oder Selbstdefinition?
Hanna Veiler: Für mich sind das Selbstdefinitionen. Ich habe neben meiner jüdischen auch eine postmigrantische Identität. Das bedeutet, dass ich mich die meiste Zeit meines Lebens wie zwischen verschiedenen Stühlen fühlte. Ich bin mit mehreren Sprachen, mit komplizierten Familiengeschichten, mit Konsequenzen der Migrationserfahrungen meiner Familie aufgewachsen. Das hat unser Leben sozioökonomisch und kulturell geprägt und hat dazu beigetragen, wer ich heute bin.
Vor allem im Teenageralter hat es zu einer Art „Identitätskonflikt“ geführt. Gerade als Teenager ist es wichtig, sich selbst definieren zu können. Ich stand zwischen den Fragen, wer ich bin, wo ich herkomme als belarussische Jüdin, mit Großeltern aus Polen und der Ukraine, die in Belarus geboren und in Deutschland aufgewachsen ist und wo ich hingehöre.
Sharon Adler: Wieviel „Russisches“ wird bei euch zuhause gelebt? Was hat das „Russische“ in deiner Familie, in deiner Kindheit und Jugend und bis heute, ausgemacht?
Hanna Veiler: Ich würde es nicht als „Russisches“, sondern als „Postsowjetisches“ bezeichnen. Wir sprechen bis heute zuhause Russisch, die Gerichte, die wir essen, sind traditionell eher belarussisch und ukrainisch. Meine Eltern waren schon immer russlandkritisch und oppositionell eingestellt.
Aktivismus in der Jüdischen Studierendenunion Württemberg
Sharon Adler: Seit wann und warum engagierst du dich in politisch-zivilgesellschaftlichen Kontexten und in der JSUD?
Hanna Veiler: Ich wurde sicherlich durch meine Familiengeschichte dazu geprägt, aktiv zu sein und Initiative zu ergreifen. Ich bin jemand, die immer mitgeredet hat und gerne Verantwortung übernommen hat. Seit meiner frühen Jugend bin ich jüdisch-politisch aktiv, so richtig begann es, als ich 2018 anfing zu studieren, nach meinem Freiwilligenjahr in Israel, durch den ersten Jugendkongress bei der JSUD. Es wehte ein frischer Wind im Sinne von: „Wir können alles ändern. Wir können die Welt auf den Kopf stellen und zu einem besseren Ort machen.“ Dieser Optimismus hat mich total mitgerissen.
Zu Studienzeiten war ich auch in unterschiedlichen feministischen Gruppen aktiv. Vor allem in der Jewish Women Empowerment
Sharon Adler: Du wurdest 2021 in den Vorstand der JSUD gewählt, warst zwei Jahre Vizepräsidentin und bist seit 2023 Präsidentin der JSUD sowie Vizepräsidentin der European Union of Jewish Students (EUJS). Welche Themen willst du neben der täglichen Arbeit gegen Antisemitismus am Campus besonders vorantreiben?
Hanna Veiler: Tatsächlich fällt es mir aktuell, nach dem 7. Oktober, schwer zu sagen, welche Themen ich neben der Arbeit gegen Antisemitismus vorantreiben will. Ich würde mich wahnsinnig gerne wieder mit sozialen Fragen und den Konsequenzen der Auswanderung aus der ehemaligen Sowjetunion beschäftigen können. Aber das fällt nach dem 7. Oktober gerade vollkommen unter den Tisch.
Ich bin mit der Idee angetreten, die Organisation ein wenig umzustrukturieren, weil sie innerhalb kürzester Zeit so schnell in ihren Strukturen gewachsen ist. Die ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder haben so viel Arbeit, die eigentlich kaum machbar ist. Das Thema Mental Health und Activist Burnout liegt mir sehr am Herzen. Und dass wir neue Stellen schaffen können, dass die Strukturen sich ausweiten und professionalisieren. Dass wir finanziell gut dastehen, ist mir wichtig. Dafür ist natürlich immer nur wenig Zeit. Und ich wollte und will für mehr Sichtbarkeit von Jüdinnen und Juden sorgen. Das haben wir auch geschafft. Wir haben ein Magazin, vor allem für Kunst- und Kulturthemen, ins Leben gerufen. Das EDA-Magazin.
Hanna Veiler: „Ich bin mit der Idee angetreten, die Organisation ein wenig umzustrukturieren, weil sie innerhalb kürzester Zeit so schnell in ihren Strukturen gewachsen ist. Die ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder haben so viel Arbeit, die eigentlich kaum machbar ist.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Hanna Veiler: „Ich bin mit der Idee angetreten, die Organisation ein wenig umzustrukturieren, weil sie innerhalb kürzester Zeit so schnell in ihren Strukturen gewachsen ist. Die ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder haben so viel Arbeit, die eigentlich kaum machbar ist.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Ein wichtiges Thema für mich ist der Inner-Community-Diskurs; Diskussionen zu Themen zwischen verschiedenen politischen Richtungen, die in der Community existieren. Und die Auseinandersetzung damit, was post-soviet heritage für uns bedeutet und die Themen Jewish Women Empowerment natürlich.
Jewish Women Empowerment Summit
Sharon Adler: Zu deinem Engagement als Mitorganisatorin des Jewish Women Empowerment Summit. Welche Ziele verfolgt es, und was bedeutet das Format für dich persönlich? Welche Themen liegen dir in jüdisch-feministischen Kontexten besonders am Herzen?
Hanna Veiler: Mit dem Summit waren wir ein Novum in der Studierenden-Bubble. Die Gruppe hat unter anderem die erste Policy zum Empowerment von Frauen und zum Schutz vor geschlechterbasierter Diskriminierung der JSUD zum Empowerment junger Jüdinnen und Juden auf den Weg gebracht. Ich durfte 2019 den ersten Jewish Women Empowerment Summit mitgestalten. Wir haben damals so viele Perspektiven von Frauen unterschiedlichen Alters und Kontexte aus dem ganzen Land zusammengebracht, dass mich das in meinem Weg für immer geprägt hat. Wenn man jetzt auf die fünf Jahre Summit zurückblickt, sieht man ganz deutlich ist, wo die Probleme liegen: dass bei allen gesellschaftlichen Problemen Frauen eine besondere Perspektive und eine besondere Rolle einnehmen. Weil sie entweder besonders gefährdet sind oder weil sie Krisen besonders auffangen oder wegen der Intersektion von bestimmten Mechanismen, die greifen. Das ist etwas, was mich immer sehr stark beschäftigt hat. Vor allem, weil ich aus einer postsowjetischen Familie komme, in der das Frauenbild ein ganz anderes war. In der ich nie daran gezweifelt habe, dass ich einen bestimmten akademischen Lebensweg einschlagen kann. In der Sowjetunion haben alle Frauen gearbeitet. Dass Frauen Ärztinnen, Ingenieurinnen und Mathematikerinnen werden, war normal. Aber gleichzeitig wurde und wird von Frauen erwartet, dass sie bestimmte Gender-Rollen erfüllen und sich um die Familie kümmern und dabei gut aussehen.
Das Besondere am Summit ist die Diversität der Themen. Es ist egal, mit welchem Hintergrund man zum Summit kommt – ob man orthodox, liberal oder säkular ist, sich mehr oder weniger mit jüdischem Gemeindeleben in Deutschland identifizieren kann oder wo man politisch steht. Der Summit schafft es jedes Jahr, all diese Perspektiven zusammenzubringen und den Teilnehmerinnen ihren Raum zu lassen. 2024 wurde auf sehr bittere Weise deutlich, in welcher vulnerablen und gefährlichen Lage vor allem jüdische Frauen sind. Deswegen steht für mich aktuell die Frage im Vordergrund, welche psychosozialen Angebote für jüdische Frauen entwickelt werden müssen, um sie bei all dem, was sie in den Medien an Hass gegen sich sehen, bestmöglich unterstützen zu können.
Der 7. Oktober und das Schweigen der Frauenorganisationen und Feminist*innen
Sharon Adler: Obwohl die Beweislast
Hanna Veiler: Die Unsichtbarmachung jüdischer Frauen, die von Hamas-Terroristen vergewaltigt wurden, ist einer der schmerzvollsten Punkte für junge Jüdinnen, die seit langer Zeit in feministischen Kreisen unterwegs sind – und dass es auf diese Art und Weise stattfindet und von Feministinnen relativiert wird. Das ist es, was uns wütend und fassungslos macht. Es ist schwer zu erklären, wie das in dieser Welt überhaupt möglich ist. Gleichzeitig wundern wir uns auch nicht darüber, weil Antisemitismus eben überall existiert. Auch in vermeintlich progressiven Kreisen. Weil jüdische Perspektiven nicht zählen, weil Jüdinnen und Juden – und das ist der Antisemitismus, der sich in den Köpfen der Menschen hält – als mächtig angesehen werden.
Sobald Jüdinnen und Juden Opfer sind, wird eine Verschwörung dahinter vermutet. Dieses Schweigen und dass wir es offenbar nicht wert sind, die gleiche Empathie von führenden feministischen Organisationen zu bekommen, wird uns begleiten. Aber wir werden es nicht vergessen. Es wird etwas sein, worüber wir in den nächsten Jahren noch sprechen müssen. Antisemitismus in queer-feministischen Zusammenhängen
Sharon Adler: Abgesehen von der internationalen Ebene: Hast du auch in Deutschland in feministischen Zusammenhängen beziehungsweise queerfeministischen linken Kreisen direkt oder indirekt Antisemitismus oder Israelhass erfahren? Welche Diskriminierungsformen sind dir dabei begegnet?
Hanna Veiler: Ich erinnere mich noch sehr genau an den Moment, in dem für mich meine progressiv-linke-jüdische Identität zum ersten Mal wirklich vollkommen zerbrochen ist. Das war im Mai 2021, während der militärischen Eskalation zwischen Israel und Gaza, ausgelöst durch Scheich Dscharrah
Darauf folgte eine Welle des Antisemitismus weltweit. Ich erinnere mich auch an ein Video aus London, das um die Welt ging, wo jemand aus einem Auto über Lautsprecher schrie: „Rape their daughters.“ Die nichtjüdisch-feministischen Bündnisse, in denen ich aktiv war, ignorierten den antisemitischen Hass, dem wir plötzlich ausgesetzt waren, vollkommen beziehungsweise verbreiteten und unterstützen selbst antisemitische Inhalte. Auch Feministinnen wie Natasha Kelly
Das war der Moment, wo für mich klar war: Allyship
Antisemitismus nach dem 7. Oktober an Hochschulen und Universitäten
Sharon Adler: Wie beurteilst du die eskalierende Situation für jüdische Studierende auf dem Campus nach dem 7. Oktober? Wie lauten die Forderungen der JSUD an die Universitätsleitungen, an Politik, Justiz, Zivilgesellschaft? Welche Konsequenzen für israelbezogenen Antisemitismus an den Unis sollte es deiner Meinung nach geben? Und wird darüber überhaupt ausreichend diskutiert?
Hanna Veiler: Jüdische Studierende sind an den Universitäten nicht mehr sicher. Es ist nicht nur ein Gefühl. Das haben wir im Fall Externer Link: Lahav Shapira gesehen, das sehen wir an Anfeindungen, denen jüdische Studierende täglich ausgesetzt sind. An den rechtlichen Möglichkeiten sind wir dran, ich kann aber heute noch nichts dazu sagen. Das, was wir in der aktuellen Situation brauchen, ist ein klares und hartes Durchgreifen seitens der Universitäten. Das bedeutet, antisemitische Versammlungen müssen aufgelöst werden. Wenn Hamas-Symboliken wie beispielsweise an der Humboldt-Universität im Spiel sind, ist da kein Raum mehr für „Dialog“. Es reicht an diesem Punkt auch nicht mehr zu sagen, wir schaffen Bildungsangebote. Natürlich muss man sie weiterhin schaffen, natürlich ist es wichtig, dass es Bildungsmöglichkeiten zu israelbezogenem Antisemitismus für Studierende gibt.
Antisemitismusbeauftragte waren von Anfang an Teil unserer Forderungen.
Die Politik muss mehr in Forschung zu Antisemitismus im universitären Raum investieren. Wir haben viel zu wenig konkrete Daten, auf die wir uns berufen können, vor allem zur Befragung von Betroffenen. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus muss methodisch werden. Vor allem in bestimmten Studienfächern, wie beispielsweise dem Lehramtsstudium.
Sharon Adler: Erfährst du persönlich, oder die JSUD, neben Hass und Hetze auch Solidarität, Empathie und Unterstützung von der Zivilgesellschaft? Von welchen Gruppen?
Hanna Veiler:
Hanna Veiler zur Situation für jüdische Studierende auf dem Campus in Deutschland nach dem 7. Oktober: „Jüdische Studierende sind an den Universitäten nicht mehr sicher. Es ist nicht nur ein Gefühl. Das haben wir im Fall Lahav Shapira gesehen, das sehen wir an Anfeindungen, denen jüdische Studierende täglich ausgesetzt sind.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Hanna Veiler zur Situation für jüdische Studierende auf dem Campus in Deutschland nach dem 7. Oktober: „Jüdische Studierende sind an den Universitäten nicht mehr sicher. Es ist nicht nur ein Gefühl. Das haben wir im Fall Lahav Shapira gesehen, das sehen wir an Anfeindungen, denen jüdische Studierende täglich ausgesetzt sind.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Der 7. Oktober hat auch bewirkt, dass wir viele neue Bündnisse und Allies gewonnen haben. Ich habe zum Beispiel selten einen so starken Zusammenhalt zwischen der jüdischen Community und Exil-Iraner*innen erlebt, wie es gerade der Fall ist. Wir haben auch sehr viele neue kurdische Allies dazugewonnen und sind im engen Austausch mit Jesid*innen. Wir erfahren auch Unterstützung in großen Teilen der ukrainischen und der Sinti*-und-Roma*-Community in Deutschland. Alle Gruppen, die von islamistischer Gefahr und Gewalt betroffen sind, halten jetzt zusammen, weil sie genau wissen, worum es geht.
Wir haben nach dem 7. Oktober auch viel Solidarität aus dem politischen Raum gesehen, aber diese Solidarität lässt langsam nach. Auch das sehen wir. Aber es geht ja nicht immer nur um politische Allianzen. Wir erhalten viele Nachrichten von Privatpersonen, die Support aussprechen. Die uns kontaktieren und sagen: „Wir sind da, wenn ihr etwas braucht.“ Das ist schön, und das ist es, worauf wir uns konzentrieren müssen.
Sharon Adler: Wie erlebst du die Situation im privaten nichtjüdischen Umfeld? Bewegst du dich ohnehin mehr in der „jüdischen Bubble“ oder hast dich bewusst dahin zurückgezogen? Was hat sich für dich persönlich nach dem 7. Oktober verändert?
Hanna Veiler: Ich habe kein nichtjüdisches Umfeld mehr. Und ich glaube, das ist auch ein klares Zeichen dafür, wie die Situation ist. Ich arbeite Vollzeit und bin von früh bis spät mit JSUD-Angelegenheiten beschäftigt. Deswegen ist da eh nicht viel Zeit für ein soziales Leben. Aber das spielt sich eben auch in dieser Bubble ab. Im Sinne von: Die Menschen, mit denen ich mich umgebe, wissen, wer ich bin und wofür ich stehe. Es ist klar, ich habe keine Antizionisten in meinem primären Umfeld.
Am 16. Mai 2024 wurde der Berliner Bebelplatz symbolisch in „Platz der Hamas-Geiseln“ umbenannt. Die Aktion, initiiert von Melody Sucharewicz und der „For Yarden“ Stiftung, wurde von zahlreichen Organisationen unterstützt, darunter Jüdischen Studierendenunion. Hanna Veiler: „Es ist unglaublich wichtig, dass wir diesen physischen Ort in Berlin haben, an dem wir als Gesellschaft zusammenkommen können und uns daran erinnern können, dass noch immer über 120 Menschen in Gefangenschaft der Hamas sind.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Am 16. Mai 2024 wurde der Berliner Bebelplatz symbolisch in „Platz der Hamas-Geiseln“ umbenannt. Die Aktion, initiiert von Melody Sucharewicz und der „For Yarden“ Stiftung, wurde von zahlreichen Organisationen unterstützt, darunter Jüdischen Studierendenunion. Hanna Veiler: „Es ist unglaublich wichtig, dass wir diesen physischen Ort in Berlin haben, an dem wir als Gesellschaft zusammenkommen können und uns daran erinnern können, dass noch immer über 120 Menschen in Gefangenschaft der Hamas sind.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Sharon Adler: Am 16. Mai wurde der Berliner Bebelplatz symbolisch in „Platz der Hamas-Geiseln“
Hanna Veiler: Es ist unglaublich wichtig, dass wir diesen physischen Ort in Berlin haben, an dem wir als Gesellschaft zusammenkommen können und uns daran erinnern können, dass noch immer über 120 Menschen in Gefangenschaft der Hamas sind. Das, was mich am meisten bewegt hat, ist, dass Familienangehörige, dass Menschen, die gerade durch Höllenqualen gehen, den Weg nach Berlin auf sich genommen haben, um – ich weiß nicht zum wievielten Male – Zeugnis abzulegen über die Geschichte ihrer Familien und darüber, was ihnen am 7. Oktober passiert ist, was bis heute anhält. Wir haben viele Interviews mit ihnen gesehen. Aber der Moment, in dem zehn Menschen vor dir sitzen, von denen man weiß, dass sie das Massaker am 7. Oktober gerade so überlebt haben und dass ihre Liebsten weiterhin in Gefangenschaft der Hamas sind und teilweise sexuell missbraucht werden, keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung und sauberem Wasser haben: Das macht sehr viel mit einem. Und das ruft einem noch mal in Erinnerung, was unsere allererste höchste Priorität sein sollte: die Rückkehr der Geiseln .
Resilienz und Zusammenhalt in der jüdischen Community in Deutschland
Sharon Adler: Was ist die Motivation für dein Engagement in der jüdischen Community? Wieviel Kraft ziehst du daraus und aus dem innerjüdischen Austausch?
Hanna Veiler: Ich denke, dass wir keine andere Wahl haben. Wir können uns nicht auf andere verlassen. Es ist immer besser, mitzusprechen und einen Platz am Tisch zu haben, als nicht gehört zu werden – egal, wie viel Kraft es kostet .
Was mir Kraft gibt, sind meine jüdischen Freundinnen und Freunde und meine Familie. Ich weiß, wofür ich es mache. Ich weiß es in Momenten, wenn Angehörige der Geiseln auf dem Bebelplatz über ihre Angehörigen sprechen. Ich weiß es in Momenten, wenn wir auf dem Jugendkongress oder auf anderen Veranstaltungen laut zusammen singen und tanzen und einfach jüdisches Leben feiern. Ich weiß es, wenn junge Menschen auf mich zukommen und sagen: „Danke, dass du das machst und dass du diese Dinge öffentlich sagst.“ Und am Ende des Tages weiß ich, dass wir uns auf eine Geschichte stützen, die voll von Resilienz und Widerstand ist. Und wenn man diese Geschichte kennt, dann weiß man, dass man keine andere Wahl hat, als weiterzukämpfen und weiterzumachen.
Europa
Hanna Veiler auf die Frage, wofür die Jüdische Studierendenunion (JSUD) in ihrer aktuellen Europawahl-Kampagne steht: „Für ein Europa, das seine Minderheiten schützt und sich entschlossen gegen jede Form des Extremismus stellt.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Hanna Veiler auf die Frage, wofür die Jüdische Studierendenunion (JSUD) in ihrer aktuellen Europawahl-Kampagne steht: „Für ein Europa, das seine Minderheiten schützt und sich entschlossen gegen jede Form des Extremismus stellt.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Sharon Adler: Du wurdest am 6. Mai 2024 von der Europäischen Bewegung Deutschland e.V. und der EU-Kommission für dein ehrenamtliches Europa-Engagement zur „Frau Europas“ ernannt und von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb am 23. Mai 2024 zur „
Hanna Veiler: Diese Auszeichnungen sind für mich total schön und überfordernd zugleich. Ich frage mich immer wieder, was das bedeutet, dass die Enkeltochter eines Shoah-Überlebenden gerade in diesem Jahr diese Auszeichnungen bekommt. Für mich stehen sie vor allem dafür, dass meine und unsere harte Arbeit gesehen wird. Sie zeigen, dass wir weitermachen müssen und nicht aufgeben dürfen.
Sharon Adler: Mit welchen Gedanken schaust du auf die Europawahl? Welche Hoffnungen und Befürchtungen hast du? Welche Forderungen? Und wofür steht die JSUD in ihrer aktuellen Europawahl-Kampagne ?
Hanna Veiler: Für ein Europa, das seine Minderheiten schützt und sich entschlossen gegen jede Form des Extremismus stellt. Unsere Kampagne „Wir sind Europa. No Europe without Jews“ thematisierte nicht nur die Rechte und Sorgen junger Jüdinnen und Juden, sondern auch jene anderer von Terror bedrohter Minderheiten. Meine Befürchtungen, ein europaweiter Rechtsruck, sind leider eingetroffen. In den nächsten Jahren wird sich zeigen müssen, ob Europa imstande ist, zusammenzustehen und den Extremen den Kampf anzusagen.
Zitierweise: Interview mit Hanna Veiler: „Wir stützen uns auf eine Geschichte, die voll von Resilienz und Widerstand ist.“, in: Deutschland Archiv, 13.8.2024, Link: www.bpb.de/551253.