Ilana Gluz: „Wir sind bei Makkabi eine Gemeinschaft und halten zusammen“
Jugendreferentin bei MAKKABI Deutschland und Mitglied im Maccabi Women’s Forum der Maccabi World Union
Ilana GluzSharon Adler
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Die Gesundheits- und Krankenpflegerin Ilana Gluz ist seit 2025 Jugendreferentin bei MAKKABI Deutschland für Sichtbarkeit und Teilhabe jüdischer Sportlerinnen. Mit ihr hat Sharon Adler gesprochen.
Sharon Adler: Du bist seit 2018 examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin für die Intensivstation, hast 2024 einen Bachelor in Psychologie in Köln gemacht und studierst aktuell Wirtschaftspsychologie auf Master. Bitte skizziere deinen beruflichen Weg und den Weg dorthin.
Ilana Gluz: Ich komme aus einer Familie, die in der Ukraine über viele Generationen medizinisch tätig war. Somit habe auch ich schnell Interesse an der Medizin entwickelt. In dem Bereich habe ich meine Schulpraktika gemacht, dann mein Staatsexamen an der Uni-Klinik Köln abgelegt und meine Ausbildung als Gesundheits- und Krankenpflegerin erfolgreich beendet. Von 2018 bis heute war ich kontinuierlich und mit viel Hingabe auf der Intensivstation tätig. Dann habe ich gemerkt, dass ich noch weiterlernen möchte. Auf die Idee, Psychologie zu studieren, kam ich auf einer onkologischen Intensivstation, wo ich viel mit Therapie und Psychologie zu tun hatte. Das habe ich berufsbegleitend drei Jahre lang gemacht.
Jetzt studiere ich Wirtschaftspsychologie im Masterstudium. Mein Interesse gilt vor allem der Verbindung von psychischer Gesundheit, Empowerment und Leadership. Ich versuche, ein Wochenende im Monat auf der Intensivstation zu arbeiten, um nichts zu verlernen und meiner Leidenschaft treu zu bleiben. Seit März 2025 arbeite ich außerdem in Vollzeit als Jugendreferentin für MAKKABI Deutschland.
Sharon Adler: Du hast lange auf Intensivstationen im Krankenhaus gearbeitet, wo du dich auch im Ethikkomitee engagiert hast. Was bedeuten für dich bei deiner Arbeit das jüdische Wertefundament und die Prinzipien Tikkun Olam und Zedaka ?
Ilana Gluz: Die Arbeit auf der onkologischen Intensivstation hat mein Leben geprägt. Ich habe Menschen in ihren verletzlichsten Momenten – oft am Ende ihres Lebens, manchmal auch im Kampf ums Überleben – begleitet. Das waren extrem belastende, aber auch sinnstiftende Aufgaben, die mich sehr erfüllt haben. Ich habe gesehen, was es bedeutet, wenn jemand nicht mehr für sich sprechen kann und abhängig von seinem Umfeld ist. Das konnte ich mir, bevor ich mit 18 Jahren die Ausbildung anfing, nicht vorstellen. Auch nicht, was es für die Angehörigen bedeutet. Genau deshalb war es mir wichtig, Teil eines Ethikkomitees zu sein, in dem ich sowohl als Entscheidungsträgerin als auch beratend tätig sein konnte. Um dafür zu sorgen, dass Entscheidungen nie rein technisch gefällt werden, sondern immer mit Blick auf die Würde, Menschlichkeit und Gerechtigkeit.
Dementsprechend war das für mich nie nur ein Job, sondern hat mich auch sehr mit meinem jüdischen Selbstverständnis verbunden. Durch meine Familie bin ich sehr jüdisch und traditionell geprägt und habe sehr viel Zeit in den Gemeinden und auf Machanot verbracht. Tikkun Olam heißt für mich, die Welt da, wo sie brüchig ist, zu reparieren. Auf einer Intensivstation ist sie dauerhaft brüchig. Somit spielt in diesem Kontext auch Zedaka, die soziale Gerechtigkeit, für mich eine große Rolle.
Sharon Adler: In nichtkonfessionellen Kliniken werden Menschen unterschiedlicher Konfessionen behandelt. Inwieweit konntest du im Ethikkomitee die individuellen Bedürfnisse von Patient:innen thematisieren und vertreten?
Ilana Gluz: Das ist eine sehr schöne Frage, weil das für mich eine große Rolle spielt. Meine Mutter lehrte mich früh, weltoffen zu denken, neugierig auf andere Kulturen und Religionen zu sein und Schönheit in Vielfalt zu erkennen. Durch sie habe ich viel gelernt und einen großen Wissenshunger entwickelt. Überall, wohin wir gereist sind, haben wir die Kultur, die Sprache und die Religion kennengelernt. Ich war in Moscheen, in Kirchen und in Tempeln. Seit ich in der Grundschule war, habe ich mich mit vielen Kulturen beschäftigt und sehr viel gelesen. Es war immer klar, dass wir jüdisch sind und leben, aber das bedeutet nicht, dass ich mich in meine Bubble einschließe und nur Informationen über meine Religion sammle.
Vielfalt ist keine Einbahnstraße, das muss von allen kommen. Ich war sowohl bei Ramadan-Festen dabei und weiß, was gebetet wird, was gegessen wird und wann und wie Fastenbrechen geht, als auch oft in Kirchen oder bei Festen von christlichen Freunden und Bekannten dabei. Dieses Fundament hat mich geprägt. Es motiviert mich, Brücken zu bauen – zwischen Kulturen, Generationen und Perspektiven. Der interkulturelle Dialog, das Zusammenführen verschiedener Identitäten und das Teilen meiner jüdischen Geschichte mit anderen sind für mich zentrale Bestandteile meines Engagements.
Sharon Adler: Du engagierst dich seit vielen Jahre ehrenamtlich und hast dich unter anderem Externer Link: im Jugendzentrum Jachad Köln als Kinder- und Jugendbetreuerin eingebracht. Was ist deine Motivation für dein Engagement in der jüdischen Community?
Ilana Gluz: Ich bin in einer traditionsbewussten jüdischen Familie mit Wurzeln in der Ukraine aufgewachsen. Mein Großvater war Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde – ein Ort, der für mich zu einem zweiten Zuhause wurde. Schon als Kind war ich von der besonderen Atmosphäre des Gemeindelebens geprägt: von den festlichen Schabbat-Abenden, vom gemeinsamen Singen, Lachen und Lernen. Diese familiäre Wärme, die Verbundenheit im Glauben und das Gefühl des Dazugehörens begleiten mich bis heute, genauso wie die Erinnerung daran, wie es bei uns zuhause nach Omas frisch gebackenem Brot, der Challa duftete. Diese familiäre Wärme, die Verbundenheit im Glauben und das Gefühl der Zugehörigkeit begleiten mich bis heute.
Mit 14 Jahren, nach unserem Umzug von Mönchengladbach nach Köln, begann ich, mich als Madricha (Jugendleiterin) in der jüdischen Jugendarbeit zu engagieren. Es folgten viele Jahre ehrenamtlicher Tätigkeit für Organisationen wie MAKKABI, die ZWST, den Zentralrat der Juden in Deutschland und den Jüdischen Studierendenverband NRW. Ich habe Kinder- und Jugendfreizeiten organisiert, Workshops zu jüdischer Identität und Antisemitismusprävention durchgeführt, auf Panels gesprochen, interreligiöse Begegnungen moderiert – und stets versucht, jüdische Perspektiven selbstbewusst in gesellschaftliche Debatten einzubringen.
Als Madricha im Jugendzentrum leistete ich meinen Beitrag dazu, dass jüdische Kinder und Jugendliche stolz aufwachsen dürfen, trotz aller Angriffe von außen. Für mich geht es dabei auch um Empowerment und Identität, und vor allem auch um eine Zukunft. Weil wir nicht bei allen Angriffen sofort das Land verlassen und weiterziehen können. Wir müssen da bleiben, wo wir sind, für uns einstehen und unser Leben normalisieren. Ich bin überzeugt davon, dass jüdisches Leben, egal, was gerade passiert, sichtbar und selbstbewusst und auch laut – im positiven Sinne – sein muss.
Sharon Adler: Ist ein jüdisches Jugendzentrum für dich auch ein Safe Space?
Ilana Gluz: Nachdem ich in Mönchengladbach, wo es nur wenige jüdische Familien gab, extremen Antisemitismus erlebt habe, kam ich sehr schüchtern und sehr verstört in dieses große Jugendzentrum in Köln, wo mich die Gemeinde und vor allem Alexander Bondarenko, der damalige Jugendzentrumsleiter, aufgenommen haben. Für mich war das dann nicht einfach nur ein Safe Space. Ich habe mich das erste Mal normal, glücklich und wohl gefühlt. Ich hatte dort nicht das Bedürfnis, wie sonst mit viel Nervosität und Unsicherheit, anderen Kindern verklickern zu müssen, dass ich jüdisch bin, und dann zu sehen, ob wir befreundet sein können. Dort hat mich kein Mensch gefragt, woher ich komme, sondern danach, was ich gerne esse oder was meine Hobbys sind. Dort war ich einfach komplett Ich. Und dafür bin ich bis heute dankbar.
Sharon Adler: Wie kamst du zu Makkabi, und was möchtest du mit deinem Engagement bewirken?
Ilana Gluz: Sport begleitet mich schon mein ganzes Leben. Ich war als Kind und Jugendliche bei der DLRG im Schwimmverein, habe Feldhockey gespielt, Jazz Dance und jüdische Traditionstänze gemacht. Bewegung war für mich immer mehr als nur Ausgleich – sie war Ausdruck von Lebensfreude, Neugier und Kraft. Heute bin ich am liebsten draußen in der Natur aktiv – beim Yoga oder Pilates, beim Joggen, Klettern oder auf dem Wasser: Wasserski, Surfen oder Schwimmen im See. Besonders viel Freude bereitet mir aktuell Krav Maga, die Selbstverteidigungstechnik aus Israel.
Diese Leidenschaft für Bewegung und Empowerment fließt auch in meine Arbeit bei MAKKABI ein. Seit März 2025 arbeite ich hauptamtlich als Jugendreferentin bei MAKKABI Deutschland. Diese Aufgabe erfüllt mich mit viel Freude – nicht nur, weil ich selbst in dieser Struktur groß geworden bin, sondern weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie prägend es ist, in einem sicheren, starken und empowernden jüdischen Umfeld aufzuwachsen. Ich möchte jungen Menschen Räume geben, in denen sie sich entfalten, verbinden und wachsen können – sportlich, politisch, kulturell und menschlich. Bei den Wintergames 2022 habe ich Keren Vogler kennengelernt, die mir eine neue und vor allen Dinge empowernde feminine Seite bei Makkabi gezeigt hat. Angesteckt von ihrer energievollen, positiven Art hat sie mich zu MAKKABI gebracht.
Außerdem bin ich seit Kurzem Mitglied im Women’s Committee der Maccabi World Union und engagiere mich dort für Sichtbarkeit und Teilhabe jüdischer Frauen im internationalen Sportkontext. Im Sommer 2025 plane und organisiere ich gemeinsam mit dem Team von Maccabi Germany Women unser erstes offizielles Empowerment-Event für Frauen. Mit Krav Maga, Yoga, Pilates, Kunst, Kultur, inspirierenden Speakerinnen und viel Raum für physisches wie psychisches Empowerment schaffen wir ein Format, das Körper, Geist und jüdische Identität in den Mittelpunkt stellt.
MAKKABI war immer ein Thema in meinem Leben, da ich ja in den Strukturen vom Zentralrat und von der ZWST groß geworden bin. Mit etwa 14 Jahren kam ich zu MAKKABI-Köln, wo ich hin und wieder die Trainings mitgemacht habe. Für meine Altersgruppe gab es Basketball und Tennis. Meine Freunde in Berlin und Frankfurt haben natürlich richtiges MAKKABI-Leben gelebt, und da durfte ich – wenn ich sie besucht habe – oft einfach mal reinschnuppern, was ich sehr angenehm und positiv fand. Dann habe ich häufiger die Events besucht und begann, ehrenamtlich mitzuarbeiten, zum Beispiel bei den Winter Games in Ruhpolding. Offiziell zum Hauptamt bei MAKKABI kam ich dann als Jugendreferentin, was mir sehr viel Spaß macht. Dass bei MAKKABI jüdische und nicht-jüdische Sportler:innen aktiv sind, ist für mich echte Vielfalt und echte Inklusion und einfach authentisch.
Sharon Adler: Mit welchem Ziel wurde das Maccabi Women's Forum ins Leben gerufen? Warum ist ein Frauen-Forum im Kontext Sport wichtig?
Ilana Gluz: Das Externer Link: Maccabi Women's Forum und Maccabi Germany Women wurden gegründet, um jüdische Frauen zu stärken, vor allem in Führungspositionen. Es geht um Sicherheit, Selbstbewusstsein und einen Safe Space, und darum, dass auch wir Frauen repräsentiert werden. Das war der ursprüngliche Gedanke, und eine Women's Abteilung war aus vielerlei Hinsicht längst überfällig. Ich unterstütze auch die Initiative „100 Women in 100 Cities“, weil ich finde, dass Stimmen gerade von jüdischen Frauen in der Öffentlichkeit nicht fehlen dürfen. More than ever. Frauen sollten gehört und respektiert werden.
Notwendig ist es meiner Meinung nach, in jeder Sportart präsent zu sein, auch, sich zu vernetzen. Ich würde mir eine Balance zwischen weiblichen, männlichen und diversen Teilnehmer:innen wünschen. Dann harmoniert es am besten. Aber es ist auch absolut okay, wenn man sich mit einem Tutor gleichen Geschlechts sicherer fühlt. Bei Sportarten wie etwa Krav Maga kommt man sich körperlich sehr nah, wenn man korrigiert wird, und das könnte als übergriffig interpretiert werden. Somit brauchen wir Frauen-Instruktorinnen. Frauen, die leiten, die die Führung übernehmen. Frauen, die coachen.
Für unser Kick-Off-Event im Sommer 2025 planen wir Krav-Maga-Workshops sowohl für Teilnehmer:innen als auch für Tutorinnen. Beide Gruppen müssen bestärkt werden. Anbieten möchten wir auch psychische Komponenten durch starke Speakerinnen, die ihr Wissen teilen und weitergeben. Außerdem Achtsamkeitstrainings, Mental Health Coachings. Das ist superwichtig für alle. Das alles möchten wir als Workshop-Events auch in den Ortsverbänden weiterführen. Damit das funktioniert, muss man auch sehr viel Mundpropaganda machen, und wir hoffen auf viel Unterstützung.
Sharon Adler: Krav Maga ist eine israelische Nahkampfkunsttechnik zur Selbstverteidigung. Warum ist gerade diese Sportart für dich persönlich und generell für Frauen wichtig?
Ilana Gluz: Ich höre oft, dass Krav Maga ein Männersport ist. Das ist Unsinn, es gibt viele Handgriffe und Coachings für Frauen. Ich mit meinen 1,60 Meter habe dadurch gelernt, von unten nach oben auf die Nase zu hauen. Krav Maga ist eine Form von Selbstverteidigung, in der sich körperliche Stärke, mentale Wachheit und Selbstwirksamkeit verbinden. Die Basics, sich ohne jegliche Hilfsmittel zu verteidigen, erlernt man schnell, es braucht keine jahrelange harte Arbeit. Das ist für alle gut, ob männlich, weiblich oder divers. Leider leben wir immer noch in einer Realität, in der es für Frauen gefährlich sein kann, abends allein unterwegs zu sein. Es gibt unzählige Frauen, die sich darüber viele Gedanken machen, die Angst haben, die Umwege fahren, die Verabredungen lieber absagen.
Krav Maga tut besonders jungen Mädchen gut. Denn man lernt nicht nur, sich physisch zu verteidigen, sondern lernt auch den eigenen Körper kennen. Man baut ein Selbstbewusstsein auf, lernt, „Nein“ zu sagen. Und ohne Angst nach Hause zu gehen – oder mit einer anderen Attitude, mit dem Gedanken: „Wenn mich jemand anfasst, dann werde ich mich wehren. Ich weiß, wie ich mich wehren kann.“ Krav Maga ist ein elementares Modul für jeden Menschen. Wenn ich mal Kinder habe, werden sie auf jeden Fall von Anfang an Krav Maga lernen.
Sharon Adler: Siehst du dein Engagement auch als einen Beitrag zur Bewahrung des Gedenkens an jüdische Sportlerinnen wie Lili Henoch und Gretel Bergmann, die in der NS-Zeit verfolgt wurden? Warum ist es heute wichtig, an sie zu erinnern?
Ilana Gluz: Ja, definitiv. Mein Engagement als jüdische Jugendreferentin bei MAKKABI Deutschland steht auch in der Verantwortung, die Erinnerung an jüdische Sportler:innen wachzuhalten und sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Diese Frauen sind große Vorbilder. Sie waren stark, diszipliniert, erfolgreich, und sie wurden dennoch systematisch ausgegrenzt und vor allem entrechtet und verfolgt. Diese Geschichte darf sich nicht wiederholen und muss in der kulturellen Erinnerung präsent bleiben, um daraus zu lernen. Diese zwei Sportlerinnen stehen für eine Geschichte, die viel zu oft vergessen wird.
Nämlich, dass auch der Sport nicht frei von Antisemitismus war und bis heute nicht ist. An sie zu erinnern, ist für mich nicht nur Rückblick, sondern Auftrag. Erinnerung bedeutet auch, den Blick für die Ungerechtigkeiten von heute zu schärfen, für antisemitische Tendenzen im Alltag, für fehlende Repräsentation und für Stereotype. Ich denke, wenn wir ihre Namen sagen, dann sagen wir auch, dass wir nicht zulassen, dass jüdisches Leben, jüdische Frauen, jüdische Stärke unsichtbar gemacht wird. Genau deswegen ist es wichtig, dass jüdische Mädchen und junge Frauen erleben, dass sie dazugehören, sich nicht verstecken müssen, träumen, kämpfen und auch gewinnen dürfen. Und dass sie nicht allein sind. Wir sind bei Makkabi eine Gemeinschaft, und wir halten zusammen.
Antisemitismus im Sport
Sharon Adler: Gegründet wurde Makkabi Ende des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die Ausgrenzung jüdischer Turner:innen aus Sportvereinen. In welchen Bereichen nimmst du Antisemitismus im Sport heute wahr?Ilana Gluz: Ich gehe häufig zu Fußballspielen, und da kommt es immer wieder vor, dass die Fans im Stadion Dinge wie „Du Idiot, Du Jude“ rufen, wenn der Ball nicht ins Tor geht. Vor allem seit dem 7. Oktober 2023 gibt es viele Probleme, beispielsweise bei Freundschaftsspielen mit israelischen Mannschaften wie Externer Link: Hapoel Tel Aviv. Da zeigen Menschen Plakate mit antisemitischen Sprüchen wie „Jews in the trash“.
Als ich im Stadion „Du Idiot, Du Jude“ hörte, war das bei Spielen wie 1. FC Köln gegen Borussia Mönchengladbach. Da war kein israelischer Fußballer mit dabei. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Aber es bringt bei so viel Aggressivität nicht viel, zwischen tausenden Menschen, die wie in einer Sardinenbüchse zusammenstehen, und wo viel Alkohol fließt, sich mit dieser Person zu streiten. Das wäre selbstgefährdend, ist aber auch frustrierend, das auszuhalten.
Sharon Adler: Im aktuellen Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD wird unter dem Punkt „Sport“, beziehungsweise „Sport frei von Gewalt und Missbrauch“ die weitere Unterstützung von Makkabi explizit erwähnt. Was braucht es deiner Meinung nach noch, um Safe Sport für jüdische Sportler:innen in der Praxis umzusetzen und die Arbeit gegen Antisemitismus im Sport nachhaltig zu verankern?
Ilana Gluz: Die Nennung von MAKKABI im Koalitionsvertrag ist wichtig und zielführend. Es zeigt, dass unsere Arbeit anerkannt wird. Aber Sichtbarkeit allein reicht nicht. Wir brauchen Safe Sport. Das bedeutet, wir brauchen eine klare Haltung und nicht nur Plakate oder einen Social-Media-Post, sondern Taten statt leerer Worte und Versprechungen.
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Antisemitische Aussagen müssen klare Konsequenzen nach sich ziehen. Es braucht verpflichtende Antisemitismus-Schulungen im Sportbund, Ansprechpersonen in Vereinen, klare Sanktionen bei Übergriffen. Ansonsten nimmt es kein Ende, dass während eines Spiels jemand „Scheißjude“ ruft. Denn was passiert denn dann? Eine rote Karte? Das ist für mich keine Sanktion. Ich würde zum Beispiel Stadionverbote gut finden, oder auch Sozialarbeitsstunden.
Jüdische Stimmen müssen in Entscheidungspositionen vertreten sein. Es kann nicht sein, dass wir über Jüdischkeit sprechen, aber nicht aktiv beteiligt sind. Was wir brauchen, ist eine nachhaltige und gleichberechtigte Struktur.
Maccabi International: die „Maccabiah 2025“
Sharon Adler: Das Motto der 22. Externer Link: Maccabiah, in Israel die aufgrund der sicherheitspolitischen Lage im Nahen Osten nicht wie geplant 2025 stattfindet und auf 2026 verschoben wurde, lautet „More than ever“. Was erwartet die Sportler:innen und das Publikum? Warum, denkst du, ist es gerade jetzt wichtig, ein sichtbares Zeichen zu setzen?
Ilana Gluz: Die 22. Maccabiah wird viel mehr sein als nur ein Sportevent. Es ist auch ein politisches Statement: dass jüdisches Leben sichtbar und lebendig ist. Gerade jetzt, vor allem seit dem 7. Oktober 2023, nach dieser globalen Katastrophe und der Entsolidarisierung, stehen wir zusammen und stehen füreinander ein. Wir trauern zusammen, wir lachen zusammen, wir geben einander Kraft. Wir sind international vernetzt. Tausende jüdische Athlet:innen aus der ganzen Welt werden da sein und zeigen: „Wir sind da, und wir bleiben da. Wir feiern unser Leben trotz allem immer weiter. Im Sinne von 'Am Yisrael Chai!'“
Der 7. Oktober 2023
Sharon Adler: Am 7. Oktober 2023 wurden gezielt Frauen und Mädchen in Israel Opfer sexualisierter
Gewalt durch Hamas-Terroristen und ihre zivilen Unterstützer. Obwohl die Beweislast evident ist, werden die Aussagen der Zeuginnen oft ignoriert und sogar angezweifelt. Wie beurteilst du das Schweigen der Frauenrechtsorganisationen? Was empfindest du bei der Entsolidarisierung, die bis heute anhält?
Ilana Gluz: Für mich waren die visuellen Inhalte dieser Katastrophe, die man sogar in Echtzeit sehen konnte, weil die Terroristen alles mit ihren Handys oder denen der Opfer gefilmt und ins Netz gestellt haben, unglaublich verstörend. Vor allem als Frau kann man das noch stärker nachempfinden: „Das könnte ich sein, das könnte meine Tochter sein, das könnte meine Enkelin sein.“ Jüdische Frauen wurden systematisch vergewaltigt, gedemütigt, getötet, vor Kameras, und die großen internationalen Frauenrechtsorganisationen, die sonst so laut sind, haben geschwiegen.
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Das ist ein gewaltiges feministisches Versagen. Dieses Schweigen tut weh, es macht wütend.
Bedeutet das, dass unsere jüdischen Körper nicht politisch genug sind? Sind die Körper von misshandelten und vergewaltigten Frauen anderer Nationen, anderer Religionen wichtiger? Da wird gepostet und getrauert, und man ist sofort zur Stelle. Aber wenn es um Israel geht, nicht? Das macht es für mich noch schlimmer. Zählt unser Schmerz nicht? Und wenn ja, warum nicht? Ich fordere ganz klar eine Erinnerungskultur, in der jüdische Frauen nicht vergessen und auch respektiert und gehört werden. Und dass ihnen geglaubt wird. Vor allem, wenn es offensichtliche Beweise gibt.
Sharon Adler: Wie beurteilst du die Situation für jüdische Studierende? Wie lauten die Forderungen des Jüdischen Studierendenverbandes Nordrhein-Westfalen e.V. (JSV NRW e.V.) an die Universitätsleitungen, an Politik, Justiz und Zivilgesellschaft? Welche Konsequenzen für israelbezogenen Antisemitismus sollte es deiner Meinung nach geben? Und wird darüber überhaupt ausreichend diskutiert?
Ilana Gluz: Als ehemalige Vizepräsidentin des Jüdischen Studierendenverbands NRW sage ich: Unsere Forderungen richten sich an mehrere Stellen. Denn Antisemitismus, besonders in seiner israelbezogenen Form, begegnet jüdischen Studierenden nicht isoliert, sondern systemisch.
An die Universitätsleitungen richten wir die klare Erwartung, sich sichtbar und eindeutig gegen Antisemitismus zu positionieren, und das nicht nur mit allgemeinen Statements, sondern durch konkretes Handeln. Das bedeutet unter anderem: funktionierende Melde- und Beschwerdestrukturen, Disziplinarmaßnahmen bei antisemitischen Vorfällen, Schutz jüdischer Veranstaltungen, die Einbindung jüdischer Stimmen bei der Ausgestaltung von Awareness-Konzepten und vor allem die konsequente Anwendung Externer Link: der internationalen IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus – auch in Bezug auf Israelhass.
Von der Politik fordern wir langfristige und zuverlässige Förderstrukturen für jüdische Studierendenarbeit, klare rechtliche Rahmenbedingungen zum Schutz jüdischen Lebens an Hochschulen sowie die ernsthafte Auseinandersetzung mit israelbezogenem Antisemitismus, nicht nur, wenn es politisch opportun ist. Die Justiz ist gefragt, wenn es um die Strafverfolgung antisemitischer Hetze geht, auch wenn sie sich hinter dem Deckmantel der „Israelkritik“ versteckt. Gewaltverherrlichende Posts, Aufrufe zu Boykotten, Störungen von Gedenkveranstaltungen. Das sind keine Meinungen, das sind Grenzüberschreitungen, die aus meiner Sicht rechtlich geahndet werden müssten.
Und die Zivilgesellschaft, insbesondere die Hochschulgemeinschaft, muss sich ihrer Verantwortung bewusst werden: Es braucht Solidarität, Zivilcourage und ein echtes Zuhören gegenüber jüdischen Stimmen. Antisemitismus ist kein „Konflikt zwischen zwei Seiten“. Es ist eine Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, und er beginnt genau da, wo jüdische Studierende sich nicht mehr sicher fühlen, ihre Identität offen zu leben.
Was die Konsequenzen betrifft: Wer auf dem Campus zu Gewalt gegen Israel aufruft oder jüdische Studierende aktiv einschüchtert, sollte nicht ungestört weiterstudieren oder lehren dürfen. Universitäten müssen diese Fälle konsequent verfolgen und sich klar abgrenzen. Nicht zuletzt, um ihrem eigenen Anspruch als Räume für Freiheit, Wissenschaft und Menschenwürde gerecht zu werden.
Wird darüber ausreichend diskutiert? Leider nein. Vieles wird relativiert oder als „komplex“ abgetan. Dabei ist für uns jüdische Studierende der Alltag alles andere als komplex, sondern oft schlicht belastend. Es reicht nicht, nach dem 7. Oktober Betroffenheit zu äußern, es braucht nachhaltiges Handeln. Und dazu gehört auch die Bereitschaft, den Antisemitismus auf dem Campus nicht länger zu ignorieren. Denn was ich schlimm finde, ist, wie Universitäten da teilweise „neutral“ blieben, während man auf jüdische Studierende Druck ausgeübt hat. Es gab diese Camps, und man musste Angst haben, auf dem Weg in die Uni Gewaltakte über sich ergehen lassen zu müssen. Viele haben Familie und Freunde, die die Geiseln persönlich kennen oder mit ihnen verwandt sind, die, so wie ich, Menschen in diesem Krieg verloren haben. Junge Menschen, die unmöglich etwas damit zu tun haben können. Und dann kommen die in Universitäten, was ein Safe Space für Wissenschaft sein soll, und werden täglich mit diesem Antisemitismus nicht nur konfrontiert, sondern sind dem ausgesetzt. Die Universitäten hätten dazu eine andere Rolle und Position einnehmen müssen und zumindest für Neutralität sorgen müssen. Das ist oft genug nicht passiert.
Sharon Adler: Hast du selbst im privaten oder beruflichen Umfeld Antisemitismus oder Entsolidarisierungen erfahren? Inwieweit stellt der 7. Oktober 2023 für dich persönlich eine Zäsur dar?
Ilana Gluz: Dadurch, dass ich schon viel Antisemitismus erlebt habe, habe ich auch früher schon Freundesgruppen verloren oder mich selbst von ihnen distanziert. Das war um 2014 herum, vielleicht auch ein bisschen vorher. Nun bin ich mit dreißig Jahren als erwachsene Frau gefestigt in meinem Umfeld. Von meinen engsten und besten Freunden habe ich viel Solidarität erfahren. Der erste Impuls meines besten Freundes, der nicht-jüdisch oder israelisch ist, war, mich sofort anzurufen und mich zu fragen, was ich brauche und wie es meiner Familie geht. Ob er etwas für uns tun kann. Das bedeutete mir sehr viel.
Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich in einer nicht-jüdischen Organisation, im Krankenhaus, gearbeitet. Da habe ich nette Bekannte, mit denen man sich gut versteht. Wir haben schon viele Jahre zusammen verbracht. Dort habe ich erlebt, wie plötzlich Menschen geschwiegen haben, die sich sonst bei allem super solidarisch und feministisch gezeigt haben.
Im universitären Kontext hörte ich Kommiliton:innen sagen, und der Ton war sehr hart und sehr rau: „Da wurde eine Frau vergewaltigt, was ist mit den zwei Millionen Kindern in Gaza?“ Diese Zahlen stimmen natürlich nicht und sind aus der Luft gegriffen. Über die Massaker in Israel wurde nicht gesprochen. Gesagt wurde das so, dass ich es hören musste, ohne dass man mit mir direkt gesprochen hat. Um mich zu provozieren oder mir wehzutun?
So etwas habe ich oft erlebt. Und ich bekam unschöne Nachrichten von Menschen, die „nicht die gleiche Luft wie ich atmen wollten“. Für mich ist der 7. Oktober eine absolute Zäsur.
Sharon Adler: Mit welchen Methoden verarbeitest du persönlich die Bilder und Zeugnisse der Opfer und Überlebenden des Massakers vom 7. Oktober? Kann man das überhaupt verarbeiten? Wie gehst du mit deiner Wut und Trauer um?
Ilana Gluz: Als Psychologin wäre es falsch zu sagen, dass man solche Schicksalsschläge oder so ein Trauma nicht verarbeiten kann. Man kann immer. Aber als private Person war das für mich das Angsteinflößendste und Schockierendste und Traumatischste, was ich jemals miterlebt habe. Ich bin mir nicht sicher, ob man das wirklich verarbeiten kann. Weil das für mich ein so unglaublicher menschlicher Abgrund war, den ich auf diese Art und Weise nicht mal im Traum hätte vorausahnen können. Und das im jetzigen Jahrhundert. Das ist wie eine Geschichte des Kreuzzug-Mittelalters.
Und noch schlimmer für mich, aber ich glaube, auch für sehr viele Menschen, die auch Opfer von Doomscrolling geworden sind: Es war alles ungefragt öffentlich. Ich wurde nicht gefragt, ob ich mir angucken möchte, wie ein Baby geköpft wird oder ähnliches. Mein Instagram-Feed war voll davon. Ich wollte diese Bilder nicht mehr ansehen, aber ich wurde quasi gezwungen, denn wenn ich irgendwo draufgetippt habe, dann tauchten diese Bilder auf. Ich konnte überhaupt keine Story angucken, oder was man so alltäglich gemacht hat, ohne solche expliziten Inhalte und Kriegsverbrechen-Bilder live ansehen zu müssen, wie ich sie noch nie in meinem ganzen Leben gesehen habe.
Und deswegen fühlt es sich auch so real an. Mein Gehirn hat das noch nie gesehen und verarbeiten müssen. Mit dem Zusatz, dass die Menschen meine Sprache gesprochen haben, Hebräisch, und es klang teilweise so, als seien es Verwandte von mir. Viel schlimmer war noch, dass ich sehr viel Familie in Israel habe. Ein Cousin war zu dieser Zeit auch in einem der Kibbuzim. Wir haben minütlich Updates bekommen. Und auf einmal wurden auch Gesichter gepostet, dann kamen Beiträge mit: „Ich habe gerade meine Cousine im Fernsehen mit diesen Hamas-Terroristen gesehen.“ Ich habe vier Tage am Stück nicht geschlafen, ich habe nicht gegessen, es ging mir mental so schlecht wie noch nie in meinem Leben.
Meine größte Angst und Panik waren, dass ich durch ein Video erfahre, dass ein Familienmitglied oder eine Freundin vergewaltigt wurde oder gestorben ist und ich es so rausfinden müsste, wie viele andere Menschen. Deswegen war ich quasi komplett in Trance und habe mir die ganzen Videos reingezogen, obwohl ich Angst hatte, jemanden wiederzuerkennen, weil ich nicht wusste, wer wo ist. Teilweise hatten wir auch Funkstille, weil die Familienmitglieder und Freunde im Bunker ohne Netz und Strom waren. Wir hatten Angst und Panik. Ich habe es monatelang nicht wirklich verarbeitet und war auf Standby-Modus. Damals war ich war mitten in meinem Bachelor-Abschluss, ich habe ja ein Semester vorgezogen, was wir dann wegen dieser Situation verworfen haben, denn ich bin nicht klargekommen.
Und das Leben hier in Deutschland ging einfach weiter…
Sharon Adler: Welche Bedeutung hat der Schabbat, haben jüdische Traditionen für dich in diesem Kontext?
Ilana Gluz: Wir haben in der Familie Regeln eingeführt, dass man versucht, sich zumindest einmal am Tag zu melden. Ich habe auch Instagram eine Zeitlang deaktiviert und mir News nur kurz angesehen. Ich habe mich gezwungen, Freude zu empfinden – trotz dieses Schmerzes und des Gefühls, dass ich es nicht verdiene, wo so viele Menschen leiden und voller Angst sind, dass ich jetzt zu einer Party gehen kann.
Ich komme aus Köln, und ich habe keinen Karneval gefeiert, das ist bei uns die fünfte Jahreszeit. Ich konnte nicht, es hat sich für mich nicht richtig angefühlt, mit den Geiseln in Gefangenschaft. Es war so eine Katastrophe, aber ich habe mich nach einiger Zeit gezwungen wieder Freude zu empfinden, – denn es ist auch im Sinne der Jüdischkeit, etwas wertzuschätzen und das Leben zu genießen. Gott hat mir geschenkt, dass ich in Sicherheit leben darf, dass ich nicht in einem Bunker sitzen muss, dass meine Eltern und mein Partner bei mir sind und nicht verstorben sind.
Ich habe auch am Schabbat nicht mehr Challa gebacken, ich habe nichts mehr gemacht. Und dann habe ich angefangen, obwohl ich am Anfang gar keine Lust hatte, mich für den Schabbat vorzubereiten, mich mal schön zu machen, wie immer. Das ist ein halbes Jahr weggefallen. Ich habe den Tag, das weiß ich noch, mit einem Psalm begonnen. Ich hatte anfangs keine Lust darauf, aber als ich ihn dann gesagt und gehört habe, was ich gesagt habe, hat sich das irgendwie vertraut und besser angefühlt. So bin ich wieder reingekommen.
Ich habe es mir gegönnt, mein Leben zu leben. Ich habe mein Brot, meine Challa, gebacken und habe jedes Mal so viel Hoffnung reingebacken und so viele Gedanken reininvestiert und so viel Liebe – und habe jedes Mal an Schabbat gebetet, dass das aufhört, dass die Geiseln freikommen. Wir können das Leben und was geschehen ist, nicht rückgängig machen, aber wir können etwas dafür tun, dass das nie wieder passiert, dass es Konsequenzen hat. Dass die Menschheit wachgerüttelt wird.
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Das kann doch nicht sein, dass wir so eine Katastrophe durchleben, und währenddessen sind da Leute, die queer und kunterbunt auf die Straße gehen und sagen: „Ich supporte Gaza und ich supporte Hamas.“ Fragt man dann: „Warst Du denn schon mal da? Würdest du da hinreisen?“, dann heißt es: „Ja, ich finde das supertoll.“ Dabei würden die da nicht mal eine Sekunde überleben.
So habe ich gelernt, damit zu leben – verarbeiten kann man das nicht nennen. Ich habe es als Teil meines Lebens angenommen und versucht, es in eine akzeptable Richtung zu bringen.
Sharon Adler: In Israel forscht man seit den 1950er-Jahren zu den Langzeitfolgen und transgenerationalen Folgen der Shoah, wie man die Überlebenden mit Traumabehandlungen unterstützen kann. Welche Hilfestellung, auch mit Blick auf die nächste Generation, kann man den Überlebenden des 7. Oktobers geben? Inwieweit ist das auch eine Retraumatisierung und mit welchen Folgen haben wir es jetzt zu tun?
Ilana Gluz: Reden hilft immer, und besonders professionelles Reden. Ich habe aber auch mit Angehörigen zusammengesessen und eine Stunde lang geschwiegen, bis sie angefangen haben, darüber zu sprechen.
Also, Reden, egal in welcher Form, hilft. Auch wenn es Schreien oder Wut oder Trauer ist. Viele haben sehr berührende Gedichte oder einfach ihre Gedanken aufgeschrieben. Sich trauen, denn man ist nicht allein, egal, aus welcher Sicht. Ob Angehörige, direkt Betroffene oder Menschen, die nichts dergleichen sind, sondern die das aus Deutschland verfolgen. Manchmal tun Gespräche unter Freunden sehr gut, aber in bestimmten pathologischen Momenten sollte man auf jeden Fall zum Therapeuten oder zur Psychologin gehen und das professionell steuern lassen. Es gibt viele verschiedene Methoden, um diese extremen Traumata zu verarbeiten oder, wenn es nicht anders geht, eventuell zu löschen. Auch Achtsamkeit ist sehr wichtig. Das ist das einfachste und leichteste Mittel und gleichzeitig das stärkste. Sich die Zeit nehmen, zu atmen. Atmen ist wichtig. Atemtherapie, Atemregulation hilft. Wenn man in einem Zustand ist, in dem man schnell redet und aufgebracht ist, funktioniert meist die Ventilation nicht richtig und man hyperventiliert oder es kommt zu viel Luft durch den Organismus, und das ist für den Kopf nicht gut, für den Geist sowieso nicht. Einfach mal die Hand auf das, was guttut, legen. Auf das Herz, auf die Mitte, auf ein Chakra legen und mal tief durchatmen. Dadurch kommt man zur Ruhe und kann dann einen klaren Gedanken fassen.
Jeden Abend drei Dinge aufschreiben, wofür man dankbar ist. Das sollte jeder schaffen. Oder das tun, was einem gut tut. Mir tat es gut, das durch die Kunst zu verarbeiten. Ich habe viel gezeichnet und skizziert. Keine wunderschönen Aquarellbilder, sondern düstere Bleistiftzeichnungen. Irgendwann ging es über in angenehmere und hoffnungsvollere Zeichnungen. Vielleicht tut dem einen Singen gut, dem anderen Laufen und sich körperlich auszupowern. Darauf sollte man hören und keine Angst davor haben, um Hilfe zu bitten.
Sharon Adler: Du bist 1995 in der Ukraine geboren und 1998 mit deinen Eltern nach Deutschland gekommen. Wie hast du 2022 den Angriffskrieg auf die Ukraine erlebt, der bis heute anhält? Ilana Gluz: Das war für mich unglaublich traumatisierend. Ich habe das Gefühl, dass die vergangenen fünf Jahre durchweg ein Trauma sind. Als Intensivkrankenschwester auf einer Corona-Intensivstation zu arbeiten, wo man junge Menschen reanimieren oder beerdigen muss, ist auch nicht gerade das Schönste dieser Welt. Dann kam der russische Angriffskrieg. Es war einfach schrecklich, was in Butscha und überall passiert ist. Das war das erste Mal, dass diese visuellen Inhalte geteilt wurden, dass da Soldaten mit ihrem Handy rumgelaufen sind und live gegangen sind. Und dass man ungefragt Kriegsverbrechen und Todesopfer so plastisch sieht. Ich dachte, das sei der Abgrund dieser Menschheit, und dann kam der 7. Oktober. Noch bin ich relativ jung, und es macht mir Angst, was noch auf mich wartet. Ich hatte mir in dieser Zeit Corona eingefangen, ich war schwerstkrank, hochansteckend und über zwei Monate lang zu Hause. Ich war auch kurz selbst als Patientin im Krankenhaus. Ich hatte einen Lungenschaden, mir ging es sehr schlecht. Währenddessen begann der Krieg, und somit war während dieser Zeit mein ganzer Lebensinhalt, Tag und Nacht, Nachrichten zu gucken. Ich komme aus Saporischschja, und wir haben auch viele Verwandte in Charkiw. Ich kenne die Stadt, und ich kenne auch andere Ecken in der Ukraine, und während ich zu Hause bin, sehe ich, was da passiert. Ich war voller Angst und voller Trauer, und ich war ganz allein. Klar, wir alle waren am Telefon, aber am Telefon weinte meine Mutter, meine Oma – und ich konnte nicht zu ihnen, weil ich krank und ansteckend war. Das hat sich lange hingezogen, und es war für mich sehr schlimm und sehr traurig. Wir haben auch Menschen verloren, die wir kannten. Gott sei Dank konnten wir einen Teil der Familie retten und herholen. Jetzt ist meine Familie in Deutschland größer geworden. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs habe ich mich neben meiner Arbeit auf der Intensivstation ehrenamtlich in der Betreuung und Begleitung ukrainischer Geflüchteter engagiert – auch in meinem eigenen Zuhause. Vor allem am Anfang, wo händeringend Hilfe gesucht wurde. Ich habe als Krankenschwester und als Dolmetscherin geholfen, alle Ämter Deutschlands kennengelernt, die ich vorher nicht kannte und mit denen ich nie zu tun hatte.
Wir haben eine wundervolle Familie mit einem Baby und einem Kleinkind kennengelernt, denen es im Flüchtlingsheim gar nicht gut ging. Die sahen nicht gut aus, sondern krank und blass. Meine Mama und ich haben sie für einige Monate aufgenommen. Der kleine Junge erzählte uns ganz traurig: „Meine Heimat gibt es nicht mehr. Da sind ganz viele Bomben und Raketen.“ Und das mit drei Jahren. Heute ist der kleine Nikolai in der Grundschule, spricht fließend Deutsch und hat im Russischen einen deutschen Akzent. Das Baby ist heute ein Kindergartenkind, hat die Einschulung mitgemacht, weiß genau, was St. Martin ist, und ist integriert. Wir sind gut befreundet und lieben uns sehr. Dass die unzähligen Ukrainerinnen, die ich kennengelernt habe, noch nach Jahren dankbar sind und sich so gut integriert haben, macht mich glücklich. Viele andere sind aber auch zurück in die Ukraine, weil sie ihr Heimatland lieben.
Zitierweise: Interview von Sharon Adler mit Ilana Glu: „Wir sind bei Makkabi eine Gemeinschaft und halten zusammen“, in: Deutschland Archiv, 11.7.2025, Link: www.bpb.de/563963 (ali).
wurde 1995 in der Ukraine geboren und kam 1998 mit ihrer Familie nach Deutschland. Die examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin für die Intensivstation war Vizepräsidentin des Jüdischen Studierendenverbands NRW und ist seit 2024 Mitglied im Maccabi Women’s Forum der Maccabi World Union. Seit 2025 ist sie Jugendreferentin bei MAKKABI Deutschland. Neben ihrer Berufstätigkeit studiert sie Wirtschaftspsychologie (M.Sc.). Interner Link: Mehr zu Ilana Gluz >>
geboren 1962 in West-Berlin, ist Journalistin, Moderatorin und Fotografin. Im Jahr 2000 gründete sie das Online-Magazin und Informationsportal für Frauen AVIVA-Berlin, das sie noch heute herausgibt. Das Magazin hat es sich zur Aufgabe gemacht, Frauen in der Gesellschaft sichtbarer zu machen und über jüdisches Leben zu berichten. Sharon Adler hat verschiedenste Projekte zu jüdischem Leben in Deutschland für unterschiedliche Auftraggeber/-innen umgesetzt und auch selbst Projekte initiiert wie "Schalom Aleikum“, das sie zur besseren Verständigung von Jüdinnen und Muslima entwickelte. Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Jahr 2019 initiierte sie das Interview- und Fotoprojekt "Jetzt erst recht. Stop Antisemitismus". Hier berichten Jüdinnen und Juden in Interviews über ihre Erfahrungen mit Antisemitismus in Deutschland. Seit 2013 engagiert sie sich ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzende der Stiftung ZURÜCKGEBEN. Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft. Für das Deutschland Archiv der bpb betreut sie die Reihe "Jüdinnen in Deutschland nach 1945"