Jüdische Schriftstellerinnen in Deutschland – vor 1933 und nach 1945
Von Vicki Baum und Anna Seghers über Barbara Bišický-Ehrlich bis Lena Gorelik
Myriam Halberstam
/ 24 Minuten zu lesen
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Was machte die Vielfalt in den Werken jüdischer Autorinnen vor 1933 und der Shoah aus? Und wie gestaltet(e) sich die Bandbreite literarischen Schaffens danach und bis heute?
Blickt man heute auf die Literaturszene in Deutschland, so findet man unter den bekannten und renommierten Protagonistinnen eine Vielzahl jüdischer Schriftstellerinnen. Auffallend ist besonders die Generation der heute zwischen 25- und 50-Jährigen, die sich in unterschiedlichen Genres von Essays über Sachbücher bis zu Romanen und Autobiografien mit ihren Publikationen einen Namen im öffentlichen Diskurs gemacht haben. Dazu zählen Sasha Marianna Salzmann, Olga Grjasnova, Katja Petrowskaja, Shelly Kupferberg, Lena Gorelik, Mirna Funk, Lana Lux oder Dana Vowinckel, um nur einige zu nennen.
Im Folgenden soll ein Blick auf das literarische Wirken jüdischer Schriftstellerinnen in unterschiedlichen Genres in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Shoah geworfen werden. Zunächst aber wird auf die Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten geblickt, um die historische Entwicklung nachzuzeichnen und sich ein Bild vom literarischen Schaffen der Jüdinnen während dieser Zeitepoche zu machen.
Jüdische Schriftstellerinnen in der Zeit vor 1933
Die NS-Zeit bedeutete ab 1933 für Jüdinnen und Juden, keine Werke mehr in Deutschland veröffentlichen zu dürfen. Der schrittweisen Entrechtung folgten Verfolgung, Flucht ins Exil, Deportationen in Konzentrationslager und schließlich die Ermordung von sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden durch die Nazis. Vor 1933 gab es eine Reihe bekannter jüdischer Autorinnen, die in Deutschland gelesen
wurden, darunter Else Lasker-Schüler, die Grande Dame der expressionistischen Lyrik, Anna Seghers, 1928 mit dem Kleist-Literaturpreis ausgezeichnet, und Alice Behrend.
Trotz zahlreicher literarischer Erfolge von jüdischen Schriftstellerinnen jener Zeit waren diese, als Vertreterinnen der „Neuen Frau“ – mit Bubikopf und Zigarettenspitze bricht frau mit den gängigen Geschlechterrollen, gibt sich androgyn und sportlich, ist berufstätig und finanziell unabhängig –, auch in der sogenannten schreibenden Zunft unterrepräsentiert. Nicht wenige veröffentlichten deshalb zunächst unter einem männlichen Pseudonym, was erfolgversprechender war. Erfolgreich publiziert zu werden schafften aber unter anderem Vicki Baum, Nelly Sachs, die 1966 den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte, Rose Ausländer oder Mascha Kaléko, die in den 1920er-Jahren Bestseller-Autorin und „Pop-Star der modernen Lyrik“ war. Einige von ihnen, auch Kaléko, arbeiteten als Journalistinnen und hatten ihre ersten Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitungen, etwa im Uhu (1924 bis 1934) oder in Die Praktische Berlinerin (1905 bis 1927), beides Publikationen des Berliner Ullstein-Verlags, die Berlin in den so genannten Goldenen Zwanziger Jahren prägten.
Um ihr Leben zu retten, sahen sich diese weitgehend assimilierten und sich als Deutsche identifizierenden jüdischen Frauen, deren Muttersprache Deutsch war, ausnahmslos gezwungen, ins Exil zu gehen. Wer es nicht rechtzeitig schaffte, zu emigrieren, aus Mangel an finanziellen Mitteln keine Visa erwerben konnte oder keine Interner Link: Bürgschaft von Verwandten im Ausland erhielt, wurde deportiert und ermordet. Die Lyrikerin Gertrud Kolmar wurde im Konzentrationslager Auschwitz ermordet, ebenso die bekannteste Jugendbuchautorin der Weimarer Republik, Else Ury, die mit der beliebten und erfolgreichen zehnbändigen „Nesthäkchen“-Reihe den Publikumserfolg der 1920er-Jahre geschrieben hatte.
Emigration und Entwurzelung
Für die Schriftstellerinnen, die bis 1939, also noch vor den ersten großen Deportationen 1940, aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen konnten, bedeutete die Entwurzelung aber nicht nur den Verlust ihrer Heimat, ihrer Familie, ihrer Freundinnen , Freunde und beruflichen Netzwerke, sondern über das individuelle grauenhafte Schicksal hinaus auch den Verlust ihres Arbeitsmittels, nämlich der Sprache. In den meisten Fällen wurde ihnen damit auch die Möglichkeit jeglichen Arbeitens und wirtschaftlicher Existenz im Exil genommen. Eine Ausnahme war die politische Philosophin Hannah Arendt, die 1933 als Staatenlose nach Paris und 1941 weiter in die USA floh, wo sie für die deutsch-jüdische Exilzeitung Aufbau schrieb, für die Conference on Jewish Relations tätig war und ihr Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ dort 1951 in englischer Sprache veröffentlichen konnte. Im selben Jahr wurde sie US-amerikanische Staatsbürgerin und lehrte danach an verschiedenen Universitäten, etwa an der New School of Social Research in New York.
Auch die Schriftstellerin Vicki Baum zählt zu diesen wenigen Ausnahmen. Sie konnte im Exil nicht nur ihre Karriere fortführen, sondern diese sogar als Drehbuchautorin in Hollywood ausbauen. Daneben konnte aber kaum eine der jüdischen Schriftstellerinnen in der Emigration an ihre Karriere anknüpfen. Die meisten lebten oft jahrelang unter prekärsten wirtschaftlichen Umständen, wie Mascha Kaléko, die in New York, in Hollywood, wieder New York und schließlich in Jerusalem lebte, oder Else Lasker-Schüler, die 1945 verarmt und einsam in Jerusalem starb, sich nach ihrer europäischen Heimat sehnend, in einem Land, das ihr immer fremd geblieben war. Verlorene Heimat, Entwurzelung, Orientierungslosigkeit und Verlust der Sprache waren die Sujets, die die Werke dieser Schriftstellerinnen inhaltlich bestimmten.
Im Aufbau veröffentlichte Mascha Kaléko unter anderem folgendes Gedicht:
Zitat
„Ich bin, vor jenen ‘tausend Jahren’ Viel in der Welt herumgefahren. Schön war die Fremde, doch Ersatz. Mein Heimweh hieß Savignyplatz.”
Nach 1945 – Nach der Shoah
Die Shoah stellte für die Schriftstellerinnen eine Zäsur dar, die bis heute nachwirkt. Einige wenige der Überlebenden kehrten zurück und versuchten, sich – in der DDR oder der Bundesrepublik – eine neue Existenz aufzubauen.
Anna Seghers, bereits vor der NS-Herrschaft eine literarische Größe, kam aus dem mexikanischen Exil und ging in die DDR in der Hoffnung, sich dort an der Entwicklung einer besseren – da sozialistischen – Gesellschaft beteiligen zu können, wo sie als Einzige von allen jüdischen Rückkehrerinnen fast nahtlos an ihre Karriere vor dem Nationalsozialismus anknüpfen konnte. Als überzeugte Sozialistin sollte sie dort zu einer „Staatsdichterin der DDR“ werden, zudem war sie von 1952 bis 1975 Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. Seghers war bereits in den späten 1920er-Jahren aus der Jüdischen Gemeinde aus- und in die kommunistische Partei eingetreten. In ihren Romanen „Transit“ und „Das siebte Kreuz“, durch die sie international bekannt wurde, schrieb sie als eine der ersten über die Grauen der Fluchterfahrung und der Verfolgung, das Elend der Heimatlosigkeit und vom Morden in den Konzentrationslagern.
Ähnlich, wenn auch nicht so direkt, beschrieben auch andere Schriftstellerinnen ihrer Generation schmerzhaft den Zivilisationsbruch der Nazis, zum Beispiel Ilse Aichinger, die Mitglied der Gruppe 47 in der Bundesrepublik wurde – trotz deren großteils in einer antisemitischen Grundhaltung verhafteten Mitglieder – und 1952 den Preis der Gruppe zugedacht bekam. Ihr Essay „Das Vierte Tor“ dürfte „einer der ersten literarischen Texte – vielleicht der erste überhaupt– sein, in dem das Wort ‚Konzentrationslager‘ fällt. Auch von den ‚Urnen aus Buchenwald‘ ist die Rede, vom ‚gelben Stern‘ und von Wien als einer ‘geistig getöteten, gefesselten Stadt‘.“
Aber auch politische Schriften wurden nach 1945 von Frauen veröffentlicht, etwa von der SPD-Politikerin Interner Link: Jeanette Wolff, die bereits 1946 ihre persönlichen Erinnerungen an die Zeit in den Ghettos und Konzentrationslagern verfasste, um „das deutsche Volk“ über die Verbrechen der Nazis aufzuklären. Ihre Aufzeichnungen erschienen 1947 unter dem Titel „Sadismus oder Wahnsinn. Erlebnisse in den deutschen Konzentrationslagern im Osten“.
Nur kurze Zeit später schreiben die Lyrikerinnen Rose Ausländer, Hilde Domin und Nelly Sachs, wenn auch fragmentierter, so doch poetischer, in einem Genre, in dem das Unaussprechliche in wenigen Worten und mit Metaphern auf Papier gebracht werden konnte.
Wie groß der Bruch mit dem Leben und der eigenen Identität durch die Verfolgung der Nazis war, zeigt das Schicksal von Hilde Domin anschaulich: „Seelisch kompliziert“ sei die Rückkehr nach Deutschland gewesen, erzählt sie, aber „wir haben uns nie exiliert aus der Sprache empfunden.“ „Das ganze Leben war ein Paradox, wir befanden uns in der merkwürdigen Situation, dass wir gerade kreativ wurden in der Sprache der Verfolger und dass unser liebstes und bestes die Sprache war, in der wir verfolgt waren. Das Zuhause war unsere Sprache.“ Den Ermordeten ein Denkmal zu setzen, an sie zu erinnern, war ein weiterer Antrieb für das Schreiben. So hat Nelly Sachs ihrem erschütternden Shoah-Gedichtzyklus „In den Wohnungen des Todes“ die Widmung „meinen toten Brüdern und Schwestern“ vorangestellt.
Die nach der Shoah Geborenen – die „Second Generation“
Für die jüdische Schriftstellerinnengeneration der direkt nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen, also den Kindern der Überlebenden, die oft selbst in einem sogenannten Interner Link: Displaced Persons-Lager aufwuchsen oder mit ihren exilierten Eltern zurück nach Deutschland gekehrt waren, gab es keine sorglose, „normale“ jüdische Kindheit. Das Trauma der Eltern, die Erfahrungen der Shoah, überschattete alle Lebensbereiche. Die ehemals großen Familien bestanden nun oft nur noch aus Eltern und Kindern. Onkel und Tanten, Cousinen oder Cousins, Großeltern gab es keine – sie waren ermordet worden. Der Schmerz der Eltern über die Verluste, das eigene Überleben und oft auch das „Gestrandet sein“ in Deutschland legte sich bleiern auf die Kinder. Die eigene jüdische Identität zu finden, sich mit der nichtjüdischen deutschen Gesellschaft auseinanderzusetzen, in die sie von ihren Eltern hineingeboren oder gebracht worden waren, die Traumata der Vergangenheit und das Hadern mit der eigenen Verortung in diesem Post-Shoah-Deutschland waren die wichtigsten Themen für Schriftstellerinnen wie Barbara Honigmann, Minka Pradelski, Viola Roggenkamp oder Esther Dischereit, hier stellvertretend genannt.
Esther Dischereit, 1952 in Heppenheim an der Bergstraße geboren, wuchs im Schatten einer Mutter und einer Schwester auf, die den Holocaust im Versteck überlebt hatten. Ihr Roman „Joëmis Tisch - Eine jüdische Geschichte“ (1988), ihre Lyrik in „Als mir mein Golem öffnete“ (1996), ihre Aufsätze „Übungen, Jüdisch zu sein“ (1998), „Mit Eichmann an der Börse“ (2001) oder „Mama, darf ich das Deutschlandlied singen. Politische Texte“ (2020) sind Beispiele dieser schmerzhaften Auseinandersetzung. Dischereit wurde eine wichtige und politische Stimme der Zweiten Generation, die sich bis heute in die aktuellen gesamtgesellschaftlichen Diskurse für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus einmischt. So hat sie den NSU-Untersuchungsausschuss akribisch verfolgt, daraufhin in ihrem Opernlibretto „Blumen für Othello“ Klagelieder (in Deutsch und Türkisch) für die Opfer geschrieben, sich mit ihnen und ihren Angehörigen solidarisiert und zudem kritisiert, „wie der Rassismus und die soziale Voreingenommenheit gegenüber einer stigmatisierten Unterschicht den Apparat blind und ihn umso furchtbarer selbst zum Täter gemacht hat, indem er nach Schuld bei denjenigen sucht, die mit ihrem Leben bezahlen mussten.“ Hier reiht sie sich in die jüdische Tradition ein, die sich immer gegen Intoleranz, Ungerechtigkeit und Diskriminierung auch anderer Gruppen engagierte und dies auch weiterhin tut. Bei Dischereit war einer der Impulse auch die jüdische Tradition des Erinnerns, wie aus ihrem eigenen Text hervorgeht:
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„Die Ermordeten sind ja nicht privat umgekommen, das wäre schlimm genug. Nein, sie sind umgekommen, während der Staat zugesehen hat. Und ich fand das eine ganz dringende Aufgabe, dass diese Trauer im öffentlichen Raum gehalten wird.“
Anders als Esther Dischereit kam Barbara Honigmann 1949 in der DDR – in Ostberlin – zur Welt, wohin ihre Eltern als überzeugte Kommunist:innen aus dem englischen Exil zurückgekehrt waren – auch sie mit der Hoffnung, eine bessere Gesellschaft mit aufzubauen. Von ihrer Kernfamilie ausgehend, den areligiösen und kommunistisch geprägten Eltern, begab sich Barbara Honigmann auf die Suche nach ihrer eigenen jüdischen Identität. Mit ihrem Mann trat sie im Erwachsenenalter in die kleine Ostberliner Gemeinde ein, nahm Hebräischunterricht, lernte dort die Rituale und Abläufe der jüdischen Feiertage und die Schriften des Judentums, bis sie 1984 ins französische Straßburg emigrierte, wo die große orthodoxe Gemeinde ihr ein jüdisches Leben in einer Vielfalt und Lebendigkeit bot, die sie in der DDR nie erlebt hatte. Ihre autobiografisch geprägten Romane, wie „Georg“ (2019) über ihren Vater oder „Ein Kapitel aus meinem Leben“ (2004) über ihre Mutter, erzählen von jüdischer Identität in der DDR und der Künstlerboheme in Ostberlin. Im Herbst 2023 wurde sie „als bedeutende Chronistin jüdischen Lebens im geteilten Deutschland mit dem Externer Link: Goethepreis der Stadt Frankfurt geehrt“ .
In einem anderen literarischen Genre als Barbara Honigmann zuhause, aber biografisch ähnlich, emigrierte die ehemalige Lehrerin und spätere Sachbuchautorin Lea Fleischmann, ihre jüdische Identität suchend, 1980 unter großer medialer Aufmerksamkeit von Frankfurt am Main nach Jerusalem. Dort lebt sie noch heute. Die 1947 im bayerischen DP-Lager Föhrenwald geborene Tochter von Überlebenden wanderte aus dem Land ihrer Geburt und dem Land, in dem ihre Eltern nach der Verfolgung – wie so viele Überlebende – gestrandet waren, aus in ein Land, dessen Sprache sie nicht beherrschte, aber das ihr Identität und Zugehörigkeit versprach. Dies blieb auch zentrales Thema ihrer späteren Bücher. 1982 schrieb sie „Dies ist nicht mein Land – Eine Jüdin verlässt die Bundesrepublik“. Ihr zweites Buch war „Ich bin Israelin“. In Jerusalem hatte sie Hebräisch gelernt und Tora und Talmud studiert. Heute führt sie dort Bildungsprogramme zur Vermittlung der geistigen Werte im Judentum durch.
Beide Schriftstellerinnen, Barbara Honigmann und Lea Fleischmann, wiederholten scheinbar unbewusst die Fluchterfahrung ihrer Eltern, emigrierten in ein ihnen fremdes Land, machten es sich zur Heimat und wandten sich in ihrem Schreiben verstärkt den Themen jüdischer Identität und Geschichte zu.
Die Journalistin und Autorin Interner Link: Inge Deutschkron („Ich trug den gelben Stern“, 1978, „Mein Leben nach dem Überleben“, 2000), die 1922 geboren wurde, überlebte die Shoah in Berlin – illegal im Untergrund versteckt von mutigen Berliner:innen und in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt, über den sie später ein Kinderbuch schrieb („Papa Weidt: Er bot den Nazis die Stirn“, 1999). Mit ihrer Mutter (Ella Deutschkron, geborene Mannhalt) emigrierte sie 1946 nach England, kam aber 1955 als freie Journalistin nach Deutschland zurück. Ihre autobiografischen Bücher über die NS-Zeit wurden Bestseller und werden heute noch im Schulunterricht gelesen. Als Reaktion auf den offenen und verdeckten Antisemitismus in der deutschen Politik und die antiisraelische Haltung der 1968er-Bewegung verließ sie 1972 enttäuscht die Bundesrepublik und ging nach Tel Aviv. 1988 reiste sie nach Deutschland – im Berliner Grips-Theater wurde „Ab heute heißt du Sara“, eine Bühnenadaption ihrer Autobiografie „Ich trug den gelben Stern“, aufgeführt und sollte eine lange Spielzeit haben. Inge Deutschkron besuchte jede Vorstellung, machte sich ein Bild über die Reaktionen des meist jugendlichen Publikums und begann Schulen zu besuchen, um mit der jungen Generation ins Gespräch zu kommen. Seit 2001 lebte sie wieder in Berlin, bis zu ihrem Tod kurz vor ihrem 100. Geburtstag im Jahr 2023. Sie war eine Mahnerin, war unbequem und nahm kein Blatt vor den Mund. Das Stück „Ab heute heißt du Sara“ wird seit 2022, unterstützt von der Inge-Deutschkron-Stiftung, wieder im Grips-Theater gespielt.
Andere Schriftstellerinnen der Post-Shoah-Generation schrieben Romane oder Biografien über Überlebende und/oder setzten sich autobiografisch mit der Bedeutung der Shoah für ihre eigene Familiengeschichte auseinander, wie etwa die 1948 in Hamburg geborene Viola Roggenkamp in ihren Büchern „Tu mir eine Liebe. Meine Mamme“ (darin sprechen jüdische Frauen und Männer in Deutschland über ihre Mütter, erschienen 2002) oder „Familienleben“, einem biografischen Roman von 2004.
Auch zwei amerikanische Jüdinnen, die es als Mittzwanzigerinnen in den 1970er-Jahren nach Westberlin verschlug – die eine aus Zufall, die andere der Liebe wegen –, sollten sich in Deutschland schriftstellerisch einen Namen machen. Irene Dische und Holly-Jane Rahlens, beide Anfang der 1950er-Jahre geboren und aus New York stammend, begannen ihre beruflichen Wege als Journalistinnen. Beide vereint das Schreiben in ihrer Muttersprache, ihre Werke wurden ins Deutsche übersetzt. Holly-Jane Rahlens fand zunächst beim Radiosender RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) Arbeit und realisierte später Beiträge als Fernsehjournalistin beim SFB (Sender Freies Berlin), bevor sie zum Schreiben kam. Nicht zuletzt wegen ihrer von der Shoah verschont gebliebenen Familiengeschichte brachte Rahlens eine unbeschwerte Leichtigkeit in ihre Auseinandersetzung mit dem „Jüdin-in-Deutschland-sein“ ein, die keine Schriftstellerin der „Second Generation“ haben konnte. Mit ihren Romanen „Becky Bernstein goes Berlin“ (1996) und „Mazel Tov in Las Vegas“ (1998) bescherte sie dem Publikum in Deutschland zeitgenössisches jüdisches Leben in humorvollen Erzählungen. Ihr Jugendroman „Prinz William, Maximilian Minsky und ich“ wurde 2003 mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und 2007 in ihrer eigenen Adaption für das Kino verfilmt. Darin lässt Rahlens Leser:innen am Vor-Bat-Mizwa-Stress der 13-jährigen Hauptfigur Nelly teilhaben sowie an ihrer Schwärmerei für Prinz William, den Enkel der Königin des Vereinten Königsreichs.
Irene Dische wurde mit ihrer Anthologie „Fromme Lügen“ (1989) bekannt, in der skurrile und zum Teil groteske Erzählungen und Kurzgeschichten lässig und mit Humor von Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen Juden und Jüdinnen einerseits und Nicht-Juden und Nicht-Jüdinnen andererseits erzählen. Im selben Jahr wurde sie mit dem Deutschen Kritikerpreis ausgezeichnet. Sechzehn Jahre später, nach weiteren Publikationen und Auszeichnungen, wandte sich Dische ihrer eigenen Familiengeschichte zu und schrieb „Großmama packt aus“ (2005), ihren Familienroman, der autobiografisch aus der Sicht ihrer verstorbenen Großmutter Elisabeth erzählt. Launisch, oft auch spöttisch lässt Elisabeth, die „Tochter aus anständigem Hause, gute Katholikin, rheinische Frohnatur und unangefochtenes Oberhaupt eines chaotischen, weitverzweigten, ungewöhnlichen und liebenswerten Familienclans“, die deutsch-amerikanische, jüdisch-katholische Familiengeschichte dreier Frauengenerationen vom Oberschlesischen Leobschütz nach New York Revue passieren.
Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle auch die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, die mit ihrer Autobiografie „Weiterleben – eine Jugend“ (1992) den Diskurs zur Erinnerungskultur in Deutschland in den darauffolgenden Jahren maßgeblich mitbestimmt hat. Die 1931 in Wien Geborene überlebte als 11-Jährige die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau und emigrierte mit ihrer Mutter Ende der 1940er-Jahre in die USA. In ihrem Buch setzt sich Klüger, die US-amerikanische Professorin der Literatur, philosophisch und reflektiert mit der Maschinerie des Massenmords an den Juden und Jüdinnen Europas auseinander. Es folgten der zweite Teil ihrer Autobiographie 2008 unter dem Titel „unterwegs verloren. Erinnerungen“ und 2013 „Zerreißproben. Kommentierte Gedichte“ (2013).
Die Schriftstellerinnen der jüngeren Zweiten Generation wie Gila Lustiger, Adriana Altaras oder Barbara Bišický-Ehrlich, die in den 1960er-Jahren aufwuchsen, verarbeiteten oft noch ähnliche Themen: die Schwierigkeit, als Nachgeborene im Land der Täter und Täterinnen aufzuwachsen. Durch den zeitlich größeren Abstand veränderte sich aber die Auseinandersetzung damit: sie wurde selbstbewusster und politischer – das zeigte sich auch am Protest gegen die Frankfurter Aufführung des antisemitischen Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder 1985. „Gemeinsam mit dem Gemeindevorsitzenden Ignatz Bubis besetzten etwa 25 Gemeindemitglieder am Abend der geplanten Premiere, am 31. Oktober 1985, die Bühne, um gegen den ‚subventionierten Antisemitismus‘ zu protestieren.“ Die Verarbeitung der Shoah wurde auch literarischer, wie bei Gila Lustigers „Die Bestandsaufname“ von 1995, die die FAZ als „einen bedeutenden Gesellschaftsroman der Zwischenkriegsjahre und der Hitlerzeit“ bewertete. „In 36 Kapiteln fixiert sie einzelne Momente aus dem Leben von Juden und Christen, Opfern und Tätern, Kommunisten und Nazis. Ein wenig erinnern Lustigers Short Cuts an die Szenen aus Brechts ‚Furcht und Elend des Dritten Reichs‘. (...). Die locker miteinander verbundenen Episoden haben etwas von einer großen Inventarliste, eben einer ‚Bestandsaufnahme‘, die mit der im Roman zitierten Liste der während der ‚Aktion Reinhardt‘ bis 1942 beschlagnahmten Wertgegenstände korrespondiert.“
Weniger literarisch als „Die Bestandsaufname“, wurden Lustigers spätere Veröffentlichungen aber mit größerem Erfolg bedacht, wie „Aus einer schönen Welt“ (1997) oder ihr autobiografischer Roman „So sind wir“ (2005), mit dem sie 2005 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gelangte. Mit Humor und Satire erzählt der Roman ihre Familiengeschichte, das Schicksal ihres Vaters als Auschwitzüberlebender und ihr eigenes Aufwachsen nach der Shoah zwischen Deutschland und Israel, wohin ihre Großeltern geflüchtet und wo ihre Mutter aufgewachsen war. „Es geht um die psychischen Auswirkungen, die das Erlebte auf die Familie hat.“
Die eigenen biografischen Schicksale sowie die Verfolgung und Ermordung der Juden und Jüdinnen während der NS-Zeit spielten weiterhin eine Rolle für die Schriftstellerinnen, so auch für die Journalistin und Autorin Erica Fischer, die 1943 in England, dem Exilland ihrer Eltern, geboren wurde und die ihre erste Publikation („Jenseits der Träume. Frauen um vierzig“) 1983 veröffentlichte. „Als Journalistin widmete sie sich Themen, die für jüdische Frauen charakteristisch sind: Schwarze in Südafrika, Sloweninnen in Österreich, Ausländerinnen in Deutschland, Frauen in aller Welt - Rassismus, Sexismus und Marginalität“ – eine mögliche Identifikation mit den Unterdrückten oder Marginalisierten aufgrund der eigenen jüdischen Geschichte. „Erst später dämmerte es mir: In einem spiralförmigen Prozess kam ich mir selbst immer näher."
Den Durchbruch erlangte Erica Fischer in den 1990er- und frühen Nullerjahren mit Sachbüchern und biografischen Romanen wie „Die Liebe der Lena Goldnadel – jüdische Geschichten“ (2000) und „Die Wertheims. Geschichte einer Familie“ (2004), gemeinsam mit Simone Ladwig-Winters. Ihr größter Erfolg war die dokumentarische Erzählung „Aimée und Jaguar. Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943“ (1999). Die Autorin ließ sich dafür von der 80-jährigen Lilly Wust die Geschichte ihrer Liebesbeziehung mit der Jüdin Felice Schragenheim erzählen, die als „U-Boot“ in Berlin lebte, 1944 von der Gestapo verschleppt wurde und im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde. „Fischer verarbeitete die Geschichte zu einem eindringlichen Zeugnis und konnte nach Erscheinen des Buches 1994 in der zweiten Ausgabe neues Material hinzufügen, da sich weitere Zeitzeuginnen gemeldet hatten.“ Das Buch wurde in 20 Sprachen übersetzt und kam 1998 als romanartige Doku-Fiktion unter demselben Titel und der Regie von Max Färberbock in die Kinos.
Ähnlich spiralförmig wie Erica Fischer näherte sich auch Mirjam Pressler, die als eine der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen Deutschlands gilt, den Themen, die sie im Innersten berührten, etwa der Shoah, die sie getrennt von ihrer alleinerziehenden jüdischen Mutter als Pflegekind überlebt hatte. Für „Bitterschokolade“ (1980), ihren ersten Jugendroman, wurde sie mit dem Oldenburger Jugendliteraturpreis, der wichtigsten Auszeichnung für Erstlingswerke und Manuskripte, ausgezeichnet. Der Roman behandelt wichtige Teenager-Themen wie Identitätsfindung, Essstörungen, ersten Liebeskummer und das Selbstbild. In ihren über 40 Kinder- und Jugendbüchern behandelte Pressler schwierige Familienverhältnisse, gefühlskalte, autoritäre Eltern, blinde Zerstörungswut der Pubertät oder das Leben als Heimkind. „Als Autorin habe ich jüdische Themen erst gemieden“, sagte Pressler in einem Zeit-Interview 2015. „Mit Beginn der 90er-Jahre erweiterte die Autorin ihren Blick auf jüdische Kindheiten während des Holocaust in Europa. Insbesondere im Leben und Werk der Anne Frank fand sie eine generationsübergreifende Symbolfigur. Die Beschäftigung mit ihren Tagebüchern und die Herausgabe der Briefe aus dem Familienumfeld (Grüße und Küsse an alle, 2009) half, Anne Frank der heutigen Leser:innengeneration nahe zu bringen und damit eine Ikonisierung aufzubrechen.“ Mirjam Pressler erhielt zahlreiche weitere Auszeichnungen, unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 für ihre Übersetzungen von „Judas“ des israelischen Autors Amos Oz und das Bundesverdienstkreuz 2018 für ihren „herausragenden Einsatz für die Völkerverständigung insbesondere zwischen Israel und Deutschland und die Erinnerung an das nationalsozialistische Unrecht“. Im Jahr 2019 starb sie in Landshut.
Schriftstellerinnen mit Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion
Mit dem Fall der Mauer 1989 und der deutschen Einheit veränderte sich nicht nur die deutsche Gesellschaft, sondern auch die Zusammensetzung der Jüdischen Gemeinden. Hatten die meist überalterten Jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik circa 30.000 Mitglieder und lebten Ende der 1980er-Jahre in der DDR nur etwa 2.000 Jüdinnen und Juden, kamen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion jüdische Zuwanderer*innen als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Bereits in den 1970er-Jahren waren zunächst etwa 3.500 Jüdinnen und Juden in die Bundesrepublik eingewandert, „als die sowjetische Regierung (...) dank des kurzen Tauwetters in den Ost-West-Beziehungen den Eisernen Vorhang für kurze Zeit lüftete. Der Großteil von ihnen ging nach Westberlin. Dieser relativ kleinen Gruppe folgten seit 1991 etwa Externer Link: 220.000 jüdische Einwander:innen, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs als Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland kamen.“ Später sollten von den insgesamt 100.000 Gemeindemitgliedern über 90 Prozent aus den ehemaligen Sowjetrepubliken stammen.
Viele der eingangs erwähnten Schriftstellerinnen der jüngeren Generation gehören Familien an, die seit 1991 nach Deutschland kamen. Oder sie sind selbst „Kontingentflüchtlinge“, wie Olga Grjasnova, Katja Petrowskaja, Sasha Marianna Salzmann, Marina Frenk, Interner Link: Marina B. Neubert oder Interner Link: Lena Gorelik. Zu den Themen, die jüdische Schriftstellerinnen bis dahin in Deutschland bearbeitet hatten, sollte nun eine neue, jüngere Form des Exils dazukommen, nämlich die Migration aus der ehemaligen Sowjetunion. Diese Schriftstellerinnen bearbeiten Themen wie Transnationalität, Multikulturalität und die daraus resultierende Mehrsprachigkeit, die Positionierung als Frau in unserer heutigen Gesellschaft sowie später die sexuelle Identität, Genderfragen und die Intersektionalität.
Die 1984 in Baku, Aserbaidschan, geborene Olga Grjasnova war als Elfjährige mit ihrer Familie nach Deutschland emigriert. Schon ihr Debutroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ bescherte der Absolventin des Leipziger Literaturinstitutes 2012 den Klaus-Michael Kühne-Preis und den Anna Seghers-Preis. In einem Parforceritt ihrer Hauptfigur durch die unterschiedlichsten Identitätskonflikte – als Emigrantin beziehungsweise als Deutschrussin in Deutschland lebend, mit der ihr fremden deutschen Kultur hadernd, mit Erfahrungen der Sprachlosigkeit, dem plötzlichen Tod ihres ostdeutschen Freundes, als säkulare Jüdin mit einem Muslim befreundet, als Jüdin ohne Hebräischkenntnisse sich in Israel auch fehl am Platz fühlend – arbeitet sich Grjasnova im Roman authentisch an der autobiografisch gefärbten Lebensgeschichte ihrer Hauptfigur Marta ab.
Eine weitere Vertreterin dieser jüngeren Generation ist Sasha Marianna Salzmann, die 1982 in Wolgograd geborene Dramatiker:in, Essayist:in und Schriftsteller:in, die ihre ersten Erfolge am Theater erzielte. Mit dem Stück „Muttersprache/Mameloschn“ schloss Salzmann das Studium „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste in Berlin ab und erhielt 2018 dafür den Nestroy-Theaterpreis. Das Stück dreht sich um das Schweigen zwischen drei Jüdinnen aus drei Generationen einer Familie und ihre Schicksale, ihre Erfahrungen, ihre Identität sowie ihre Suche danach und nach einer gemeinsamen Sprache. Die Großmutter Lin ist Shoah-Überlebende und hat als Kommunistin und staatstreue Künstlerin in der DDR gelebt. Im Winter 2023/24 wurde das Stück nach vielen außergewöhnlichen und hochgelobten Inszenierungen bundesweit auch im Gorki Theater Berlin aufgeführt, wo Salzmann jahrelang Hausautor:in war und für dessen Studio Я sie bis 2015 die künstlerische Leitung innehatte. Ihr jüngster Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ (2021) zeigt einen „kulturellen Generationenkonflikt (...) und überzeugt als Mentalitätsstudie der ersten Generation von Kontingentflüchtlingen“, urteilte die Jüdische Allgemeine 2021. Im Jahr 2022 wurde Salzmann für „Im Menschen muss alles herrlich sein“ für den Deutschen Buchpreis nominiert und erhielt den Hermann-Hesse-Literaturpreis.
Die Bestimmung der eigenen Identität in der jüdischen Community
Mit dem Verhandeln der eigenen jüdischen Identität innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist ein weiteres Thema für die Schriftstellerinnen der jüngeren Generation hinzugekommen. Wurde früher die eigene Identität zur deutschen, nicht-jüdischen Gesellschaft in Bezug gesetzt, so wird heute die eigene Identität auch in Bezug auf das eigene „Nicht-jüdisch-sein“ oder „Nicht-ganz-als-Jüdisch-anerkannt-sein“ gesehen. Vermehrt auftretende interkulturelle und interreligiöse Ehen, in denen nur ein Elternteil, oder nur der Vater jüdisch ist, haben zu einem innerjüdischen Dialog über Patrilinearität und die damit verbundene jüdische Identität geführt und sind auch thematisch in literarische Werke eingeflossen, wie im vielbeachteten Debütroman „Wasser im Ziplock“ (2023) von Dana Vowinckel oder den beiden Romanen „Winternähe“ (2015) und „Zwischen Du und ich“ (2021) der 1981 in der DDR geborenen Schriftstellerin Mirna Funk, die eine nicht-jüdische Mutter und einen jüdischen Vater hat. „Die meisten meiner Freunde sind sogenannte Kontingentgeflüchtete. Was uns verbindet, ist, dass wir als Juden aufgewachsen sind, ohne jüdische Traditionen zu leben und uns diese erst später selbst erarbeiten mussten“, erklärt Mirna Funk, deren Urgroßvater der jüdische DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin war, ihre Identitätssuche und ihren formalen Übertritt zum Judentum, um ihren Status geklärt zu wissen. So ist es auch zum Teil autobiografisch, wenn Funk in „Winterreise“ von dem Aufbruch ihrer Hauptfigur Lola von Deutschland nach Tel Aviv auf der Suche nach der Bedeutung von Identität in einer globalisierten Welt erzählt. Funk schreibt regelmäßig Kolumnen in unterschiedlichen Zeitschriften und Zeitungen, wie Vogue oder NZZ. Im November 2023 wurde sie mit dem Arik-Brauer-Publizistikpreis für „fundierte Beiträge zur öffentlichen Debatte [...], die den Nahen Osten aus einer fairen und realitätsbezogenen Perspektive“ betrachten, ausgezeichnet.
Identitätsbezogene Bestandsaufnahmen in der Gegenwart Bereits ab 2013 hatte sich die Wissenschaftlerin und Autorin Alina Gromova dieser Identitätssuche und Identitätsarbeit gewidmet und die vielbeachtete Publikation „Generation ‚koscher light‘. Urbane Räume und Praxen junger russischsprachiger Juden in Berlin“ herausgebracht. Sie zieht darin folgendes Fazit:
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„Gerade angesichts der unterschiedlichen Definitionen des Judentums als Religion, ethnische Zugehörigkeit oder Lebensphilosophie, die ihnen (dieser jüngeren Generation) von ihren sowjetisch sozialisierten Eltern und Großeltern auf der einen Seite und von der deutsch-jüdischen Gesellschaft auf der anderen Seite geboten werden, entwickeln sie im Umgang mit diesen Optionen eine Versiertheit, die sie als Experten der Postmoderne bezeichnen lässt.“
Diese Generation ist als Kinder von oft ethnisch, sprachlich und religiös gemischten Familien gewohnt, die widersprüchlichen Identifikationen für sich selbst in Einklang zu bringen, wie die Identifikation als Deutsche, Russ:innen oder Ukrainer:innen, die der jüdischen Traditionen auf der einen Seite und den christlichen der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite. Die Frage, was es bedeutet, in Deutschland jüdisch zu sein, ist im Jahre 2023 aber noch immer genauso aktuell, wie man zum Beispiel in dem von Interner Link: Laura Cazés herausgegebenen Sachbuch „Sicher sind wir nicht geblieben“ (2022) nachlesen kann. Darin hat die Autorin und hauptberufliche Leiterin der Abteilung Kommunikation und Digitalisierung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland zwölf Jüdinnen und Juden um Beiträge gebeten und ein vielstimmiges Werk zum „Jüdischsein heute“ veröffentlicht. Diese Vielfalt spiegelt sich in ihrer Familie, denn Mutter und Vater kommen aus unterschiedlichen jüdischen kulturellen Bezügen, nämlich aus der Interner Link: aschkenasischen und aus der sephardischenTradition. „[I]ch bin, auch im institutionellen Kontext, also in der Schule und durch die Machanot der ZWST, mit einer eher orthodoxen Perspektive auf das Judentum aufgewachsen. Ich selbst bin eine säkular lebende Person, und die Familie meines Vaters in Argentinien würde sich eher als progressiv, auch institutionell progressiv bezeichnen,“ erzählte sie in einem Interview.
Vergleicht man die zeitgenössischen deutschsprachigen Publikationen jüdischer Schriftstellerinnen mit denen, die vor der Shoah veröffentlicht wurden, so kann heute eine besonders auffallende Vielstimmigkeit jüdischer Identitäten festgestellt werden, die nicht zuletzt aufgrund der so diversen Herkünfte, Erfahrungen, Lebensläufe und Positionierungen entstanden ist. Die Bandbreite an Publikationen und Themen spiegelt dies wider. Ein verbindendes Thema bleibt aber, bei aller Unterschiedlichkeit der Veröffentlichungen, die stetige Rückbesinnung auf oder die Auseinandersetzung mit dem eigenen gelebten Judentum – egal ob säkular, kulturell oder religiös. Dieser stetige Austausch, dieses Verhandeln der eigenen Identität wird auch in Zukunft neue Aspekte literarisch erschließen.
Zitierweise: Myriam Halberstam, „Jüdische Schriftstellerinnen in Deutschland – vor 1933 und nach 1945“, in: Deutschland Archiv, 08.02.2024, Link: www.bpb.de/545266.
wurde in Brooklyn, New York geboren. Die Journalistin, Filmemacherin und Autorin ist in Deutschland aufgewachsen und hat in New York Theaterregie und Kunstgeschichte und an der Kunsthochschule für Medien, Köln Film- und Fernsehregie studiert. 1988 wanderte sie nach Israel aus, wo sie in israelischen Spielfilm- und Fernsehproduktionen, sowie als Printjournalistin arbeitete. In Deutschland realisierte sie als Regisseurin zeitgeschichtliche Dokumentarfilme für das öffentlich-rechtliche Fernsehen und arbeitete als Redakteurin. 2007 begann sie Kinderbücher zu schreiben. 2010 gründete sie den Ariella Verlag , den ersten jüdischen Kinderbuchverlag in Deutschland nach der Shoah.Interner Link: Mehr zu Myriam Halberstam >>
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