„Packe deine Heimat, dein ganzes Leben in tragbare Koffer. Packe sie so, daß du das Teure, Letzte nicht auf der Flucht in der Hast von dir werfen mußt als eine gefährliche Last.“
Meine Verwandte Lea Grundig Ein Porträt
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Als Schauspielerin habe ich das Bedürfnis, mich in Charaktere hineinzuversetzen, mich zu fragen, was Menschen ausmacht. Vor etwa zwölf Jahren habe ich mich zusätzlich intensiv mit Dokumentarfilmen beschäftigt, und selbst angefangen zu drehen, zu recherchieren und dokumentarisch zu denken. Insbesondere hat mich das Medium Kinofilm inspiriert, Geschichten zu erzählen, aus der Wirklichkeit heraus, mit einer spannenden dramaturgischen Linie. Es ist, wie ein Puzzle zusammenzusetzen und in Zeiten zurückzuschauen, aus denen wir lernen und die unser Weltbild erweitern können. In der heutigen Zeit ist es umso wichtiger, sich die Lehren aus der Geschichte wieder zu vergegenwärtigen, um so Fäden zu spannen, die uns Zusammenhänge besser herstellen lassen. Nicht zuletzt aus diesem Grund beschäftige ich mich auch mit meiner Großtante Lea Grundig. Weil ich es für wichtig halte, Vergleiche mit der heutigen Zeit zu ziehen und daraus zu lernen. Damit solche schrecklichen Ereignisse, die sie durchmachen musste, nie wieder passieren. „Nie wieder Faschismus!“ lautete die Maxime vieler geflüchteter Jüdinnen und Juden, die aus dem Exil zurück nach Deutschland kamen, um einen „besseren deutschen Staat“ aufzubauen – die DDR. So entschieden es mein Großvater Josef, seine Brüder Max und Fred, meine Großmutter Lizzi und auch Lea Grundig. Derzeit arbeite ich an einem Dokumentarfilm über das Leben der Künstlerin Lea Grundig. Mit ihren Lithografien und Gemälden bin ich aufgewachsen, sie begegneten mir bereits als Kind an den Wänden bei meinen Verwandten. Überall hingen diese meist schwarz-weißen Zeichnungen und Gemälde. Sie wirkten auf mich düster und schwermütig, hatten etwas Ehrliches und Geerdetes, aber auch etwas sehr Erschreckendes. Es ging viel um Armut und eine Zeit des Leidens. Es müssen auch die Bilder aus dem Holocaust-Zyklus von Lea dabei gewesen sein. Aber auch die politischen, sozialistischen Gemälde hingen an den Wänden, die zum Unterrichtsstoff in der DDR gehörten.
Esther Zimmering mit dem Porträts ihrer Urgroßmutter, das Lea Grundig auf Bitten ihres Cousins Josef Zimmering in den 1950er-Jahren nach einer Fotografie angefertigt hat. Es hing viele Jahre im Wohnzimmer der Großeltern von Esther Zimmering, und heute hängt das Porträt im Haus ihrer Eltern. (© Esther Zimmering, privat)
Esther Zimmering mit dem Porträts ihrer Urgroßmutter, das Lea Grundig auf Bitten ihres Cousins Josef Zimmering in den 1950er-Jahren nach einer Fotografie angefertigt hat. Es hing viele Jahre im Wohnzimmer der Großeltern von Esther Zimmering, und heute hängt das Porträt im Haus ihrer Eltern. (© Esther Zimmering, privat)
Bei meinen Eltern hängt bis heute eine Tuschezeichnung meiner Urgroßmutter von Lea Grundig an der Wand. Sie ist die Mutter meines Großvaters, die von der Gestapo 1933 aufgesucht und danach in der Wohnung tot aufgefunden wurde. In den 1950er-Jahren gab mein Großvater, Josef Zimmering, Lea ein kleines Foto seiner Mutter und bat sie, sie zu malen. Feine, genaue Gesichtszüge, große, offene Augen, fast ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht, als wenn meine Urgroßmutter gleich anfängt zu sprechen, aus dem Gemälde heraustritt und sagt: „Hallo meine Urenkelin, wie geht es Dir?“ Im Gegensatz zu anderen Zeichnungen von Lea wirkt das Bild auf mich sehr offen und freundlich. Dieses Bild hing seit den 1950er-Jahren in der Wohnung meiner Großeltern. Nach deren Tod kam das Bild zu uns.
Mein Vater berichtet, dass Lea bei ihnen zu Hause im Dresdener Stadtteil Klotsche ein- und ausging. Wenn sie kam, sei es immer lustig gewesen: Lea verbreitet eine humorvolle und heitere Stimmung. Aber Punkt 21:00 Uhr bestellt sie sich ein Taxi und fährt nach Hause, um dann früh am Morgen wieder konzentriert arbeiten zu können. Nach dem Mauerfall kontaktieren Leas Nichte Ruth und ihr Mann Shlomo, die in Wien und in Israel leben, meine Eltern. Es folgt ein jahrelanger Austausch zwischen ihnen. Sie erzählen mir wichtige Dinge aus diesen Gesprächen, und ich bin glücklich, dass ich seit einiger Zeit mit Leas Nachfahren meiner Generation, ihren Ur-Neffen, in Kontakt bin.
Lea Grundig: Porträt ihrer Tante, welche auch die Urgroßmutter von Esther Zimmering ist, Cejte Zimmering. Abgemalt von einem Foto, das im Jahr 1932 aufgenommen wurde. Das Porträt stammt aus dem Jahr 1950, Tusche auf Papier. Das Werk befindet sich im Privatbesitz. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Lea Grundig: Porträt ihrer Tante, welche auch die Urgroßmutter von Esther Zimmering ist, Cejte Zimmering. Abgemalt von einem Foto, das im Jahr 1932 aufgenommen wurde. Das Porträt stammt aus dem Jahr 1950, Tusche auf Papier. Das Werk befindet sich im Privatbesitz. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Immer wieder stoße ich auch in meiner Arbeit an dem Dokumentarfilm „Swimmingpool am Golan“
Als ich in Atlit recherchiere, sehe ich mir einen Pavillon voll mit Lea Grundigs Bildern an, die unter freiem Himmel hängen. Außerdem besuche ich eine Baracke, in der sie acht Monate mit anderen Frauen gelebt, die Lagerinsassinnen gemalt und portraitiert hat. Insgesamt habe ich innerhalb von 20 Jahren etliche Ausstellungen ihrer Werke in Deutschland gesehen. In einer dieser Ausstellungen – in der Ladengalerie in der Berliner Torstraße – lerne ich ihre Biografin und Freundin Maria Heiner kennen. Seitdem haben sich unsere Wege immer wieder gekreuzt. Ich achte ihre Arbeit an Externer Link: Leas Werkverzeichnis und den vielen Katalogen sowie ihre Vorträge und Ausstellungen über Lea Grundig. Aus Leas Buch „Gesichte und Geschichte“ habe ich oft auf Veranstaltungen gelesen. Darin schreibt sie über den Untergang der Patria: „Das große Schiff legt sich um wie ein getroffenes Tier, etwas hat seine Eingeweide zerrissen. Die Menschen, die es trägt, sind sie am unteren Rand, so sind sie verloren. Ein wildes Schreien bricht aus. Ruhig überlegte ich mir: Zuerst fort vom Deck, über das Geländer hinüber. (…) Ich rutschte und glitt hinunter, und dann zogen mich helfende Arme ins Boot.“
Kindheit, Jugend in Dresden, Beginn als Künstlerin
Am 23. März 1906 wird Lea Grundig als Lina Lea Langer in Dresden in eine gutbürgerliche, jüdisch-orthodoxe Familie geboren. Sie hat zwei Schwestern, Klara und Marie. Klara stirbt im frühen Alter an Kinderlähmung, und ihre Schwester Marie wandert 1934 nach Palästina/Eretz Israel aus und lebt in Haifa mit ihrem Mann und deren Tochter Ruth. Leas Familie pflegt die jüdischen Traditionen und ist sehr religiös, besonders ihr Vater. Lea feiert die jüdischen Feste, und die Familie hält sich an die strengen jüdisch-orthodoxen Regeln. Als Jugendliche ist sie von 1920 bis 1924 Mitglied im zionistischen Jugendbund „Blau-Weiß“.
Lea Grundig in den 1920er-Jahren, Privatbesitz Familie Zimmering. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Lea Grundig in den 1920er-Jahren, Privatbesitz Familie Zimmering. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Nachdem sie in ihrer frühen Jugend Traditionen und Religion über den Haufen wirft, besinnt sie sich in späteren Jahren wieder auf ihre jüdischen Wurzeln und fühlt sich den Traditionen verbunden. 1922 beginnt Lea ein Studium an der Dresdner Kunstgewerbeschule. Von 1924 bis 1926 studiert sie als Meisterschülerin an der Dresdener Kunstakademie und lernt hier den sechs Jahre älteren Maler Hans Grundig kennen und lieben. Er ist Kommunist und nicht jüdisch. Ihr Vater ist strikt gegen diese Beziehung und versucht von Anfang an, die beiden wieder auseinanderzubringen. Deshalb schickt er Lea in eine psychotherapeutische Klinik nach Heidelberg. Der Trennungsversuch des Vaters scheitert kläglich und bewirkt genau das Gegenteil. 1926 wird Lea Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). 1928 heiratet sie Hans Grundig.
V.l.n.r. Hans Grundig (1901-1958; Maler) und Lea Grundig (1906-1977; Malerin), aufgenommen um 1955. (© picture-alliance, Deutsche Fotothek-SLUB/Richard Peter)
V.l.n.r. Hans Grundig (1901-1958; Maler) und Lea Grundig (1906-1977; Malerin), aufgenommen um 1955. (© picture-alliance, Deutsche Fotothek-SLUB/Richard Peter)
Nach der Hochzeit lebt das Paar in sehr armen Verhältnissen, in einer kleinen Hinterhauswohnung in Dresden Neustadt. Sie lernen das Arbeitermilieu kennen und machen es zu einem Hauptmotiv ihrer Bilder. Ihr bevorzugtes Thema in dieser Zeit sind die Hinterhof-Kinder in ihrem Viertel. 1929 ist Lea gemeinsam mit ihrem Mann Gründungsmitglied der Dresdner Gruppe „Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands“ (ASSO). Ihr Vater weigert sich, das Paar finanziell zu unterstützen. So können sich Lea und Hans kaum über Wasser halten. 1930 stirbt Leas Mutter, Perl Langer, geborene Zimmering (hier zeigt sich meine Verwandtschaft zu Lea - ich bin ihre Cousine dritten Grades!), da ist Lea 24 Jahre alt. Der Tod der Mutter trifft sie hart, da sie mit ihr, trotz der Abneigung des Vaters, immer eng verbunden geblieben ist. Trotz ihrer finanziellen Not unterstützen Lea und Hans die KPD und das Laientheater „Die Linkskurve“ mit Linolschnitten, Transparenten und Plakaten. Sie übernehmen auch Auftragsarbeiten, etwa Portraitarbeiten, und kaufen sich von dem Geld eine kleine Kupferdruckpresse, mit der sie eigene Radierungen drucken können. Damit sind sie unabhängig. In den Jahren ab 1933, als Adolf Hitler die Macht in Deutschland übernimmt, bis 1938 fertigt Lea 150 Kaltnadelradierungen an. Sie arbeitet unter anderem an dem Grafikzyklus „Der Jude ist schuld“. In ihren Werken nimmt sie thematisch Bezug auf das Proletariat. 1935, mit der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze, gilt auch für Lea ein Arbeits- und Ausstellungsverbot.
Bild von Lea Grundig "Die Gestapo kommt zu uns nach Hause" aus der Serie "Unterm Hakenkreuz". (© picture-alliance, Photo12/Archives Snark )
Bild von Lea Grundig "Die Gestapo kommt zu uns nach Hause" aus der Serie "Unterm Hakenkreuz". (© picture-alliance, Photo12/Archives Snark )
Nachdem sie eine Einladung von dem Maler und Rechtsanwalt Albert Merckling erhalten haben, reisen Lea und Hans 1936 zu einem Arbeitsaufenthalt in die Schweiz. Dass sie nach dieser Zeit trotz der politischen Spannungen wieder zurück nach Deutschland gekommen sind, ist erstaunlich, denn Kommunisten und jüdische Menschen werden bereits ab 1933 verfolgt. Die Situation spitzt sich immer mehr zu. Ein Grund für die Rückkehr mag gewesen sein, dass ihr gesamtes Kunstwerk in Dresden lagert und sie es nicht einfach dem Schicksal überlassen wollen. Ab 1937 arbeitet Lea an dem Zyklus „Unterm Hakenkreuz“, der die Kaltnadelradierungen „Er wird sich befreien!“ und „Gefangen II“ einschließt.
Lea Grundig in jungen Jahren. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Lea Grundig in jungen Jahren. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Nachdem sie zurückgekehrt sind, werden sie von der Gestapo mehrfach verhaftet. Hans wird erst mal wieder freigelassen. Lea ist über ein Jahr in Untersuchungshaft, weil ihr unterstellt wird, dass sie in eine Verschwörung verstrickt sei. In dieser Zeit schreiben Hans und Lea sich fast täglich Briefe, die erhalten geblieben sind und heute in Yad Vashem in Israel aufbewahrt werden. Die Briefe von Hans an Lea, die Maria Heiner und ich mehrfach in Lesungen vorgetragen haben, machen auf eindrückliche Weise deutlich, wie es den beiden in diesem Jahr erging: Hans ist stark depressiv, lebt in Armut, bettelt bei Leas Vater um Hilfe und um Geld und hat eine Schaffenskrise. Nichtsdestotrotz entstehen in diesem Jahr Werke wie zum Beispiel „Der Karneval“, in dem die Schrecken der Naziherrschaft vorausgesehen und die Ignoranz der Menschen dargestellt werden.
Es gibt für Lea nur eine einzige Möglichkeit, aus dem Gefängnis und aus Deutschland zu entkommen: einen Freikauf über die Jewish Agency for Palestine (JAP).
Leas Flucht und acht Jahre Leben in Palästina/ Eretz Israel
Nachdem Lea von der JAP freigekauft wird, weist die Gestapo sie am 13. Februar 1940 aus Deutschland aus. Sie fährt noch in derselben Nacht nach Prag. Es ist bis heute nicht erforscht, ob sie Bilder und Briefe von sich und Hans mitgenommen hat. Viele hundert Briefe von ihr und Hans haben irgendwie Yad Vashem erreicht, keiner weiß, wie das geschah. Auf dem Transport von Prag nach Wien und von Wien nach Bratislava (Slowakei) wird sie von der Gestapo überwacht und acht Monate im Lager „Patrónka“ interniert und festgehalten. Das Lager ist vorerst sicher, obwohl es von der faschistischen Hlinka-Garde
Leas neue Heimat: Israel
Nach der Entlassung aus Atlit zieht Lea zu ihrer Schwester nach Haifa und lebt mit ihr, deren Ehemann und Tochter Ruth auf engstem Raum zusammen, was auch wegen ihrer unterschiedlichen politischen und kulturellen Einstellungen nicht einfach ist. Schon bald zieht sie nach Tel Aviv zu ihrem Vater, mit dem sie sich nach langer Zeit besser versteht. Während dieser Lebensphase fertigt Lea Zeichnungen über den Holocaust an. Die Zyklen „Im Tal des Todes“ und „Ghetto“ entstehen. Sie lernt schnell Hebräisch und schließt Kontakte mit einheimischen und migrantischen Künstler*innen und Schriftsteller*innen. Wegen ihrer Neugierde an einem gelebten Sozialismus hält sie sich in verschiedenen Kibbuzim auf. Dort arbeitet sie tagsüber in der Landwirtschaft, und nach der Arbeit malt sie. Ihre Begeisterung für das einfache, kollektive, naturverbundene Leben im Kibbuz animiert sie künstlerisch stark. Dort entstehen Bilder von arbeitenden Menschen, glücklichen Kindern sowie Tier- und Landschaftsdarstellungen. Sie veranstaltet sowohl in Kibbuzim, wie zum Beispiel in Hashofet, als auch in den großen Städten Haifa, Tel Aviv und Jerusalem Ausstellungen in Museen und in bekannten Galerien. In dieser Zeit entsteht die Serie „Ich zeichnete im Kibbuz“ und „Was hast Du vom Negev gesehen?“
In Palästina/Eretz Israel lernt Lea die bekannte Schriftstellerin und Autorin Bracha Chabas kennen, deren zahlreiche Kinderbücher sie über Jahre illustriert. In diesem Land setzt sie sich tatsächlich intensiv mit dem Jüdischsein auseinander und veröffentlicht viele Artikel und Aufsätze zu diesem Thema. Dabei spielen ihre Erfahrungen im zionistischen Jugend- und Wanderbund "Blau-Weiß" eine Rolle. Wie eingangs beschrieben, war sie dort 1926 in Dresden Mitglied, zusammen mit meinem Großvater Josef, und distanzierte sich später vom Zionismus und auch von der ostjüdischen Orthodoxie ihrer Eltern. In Palästina/Eretz Israel betätigt sie sich auch politisch und wird Mitglied der PKP - der Palästinensischen Kommunistischen Partei.
Acht Jahre in Palästina/Eretz Israel sind eine lange Zeit, in der sie Freund*innen, Bekannte und Kolleg*innen findet. Während ihres Lebens in Israel hat sie 12 Einzelausstellungen in angesehenen Galerien, unter anderem im Museum Tel Aviv, im Externer Link: Bezalel und in der berühmten Galerie Katz. Die Ausstellungen rufen eine breite Reflexion in der Künstler*innenwelt hervor, in Zeitschriften gibt es viele positive Kritiken und Besprechungen ihrer Werke. So heißt es beispielsweise: „(…) ihre Bilder enthalten diese gewisse Unabhängigkeit, die ihren Kunstwerken innewohnt.“
„(…) Der Künstler hat eine schwere Aufgabe, die ihm auferlegt wurde (…). Er hat eine Mission des Volkes und der Gesellschaft zu erfüllen, das Antlitz der Gesellschaft zu verändern und ihrer Erlösung zu dienen.“
Sie kann aber auch zwischen den Rezipient*innen und der Kunst sehr gut vermitteln. In Israel und später in der DDR geht es Lea immer um die Aufgabe der Kunst: eine Verbindung zwischen Kunst, Arbeiter*innen und dem Sozialismus herzustellen. Sie beteiligt sich aktiv und begeistert am Aufbau des zionistischen Projekts in Palästina/Eretz Israel. Dies erwähnt sie aber später in der DDR nicht mit einem einzigen Wort, so auch nicht in ihrer Autobiografie. Es taucht kein einziger Satz auf, dass sie in Palästina/Eretz Israel publiziert hat. Ich führe das auf den Anfang der 1950er-Jahren aufkeimenden Antisemitismus unter Stalin zurück, der sich auch in der DDR zeigte, und die Angst, nicht als hundertprozentige Sozialistin angesehen zu werden – und dadurch Schwierigkeiten zu bekommen, wie es vielen Emigrant*innen aus den westlichen Exilländern ergeht. Was verschweigt sie noch?
Tatsächlich erwähnt sie nicht, dass sie in Eretz Israel eine Zeit lang mit einem Mann, Nachum Itin, einem Zinkografie-Künstler, zusammenlebt. Eventuell hat sie ihn in Dresden schon vor dem Krieg kennengelernt, als er dort zu einem Kunstaufenthalt verweilt. Das ist aber bis heute nicht ausreichend belegt. Was man weiß, ist, dass Nachum Itin sie in Palästina/Eretz Israel finanziell unterstützt und sie in die Künstler*innenszene in Tel Aviv einführt. Es gibt viele Auseinandersetzungen zwischen Lea und Itin, wie unsere israelischen Verwandten erzählen. Man weiß nicht genau, wie und warum sie nach vielen Jahren auseinandergehen. Ich kann mir vorstellen, dass sie zwischen ihm und Hans hin- und hergerissen ist, als er mit seinen Briefen in ihrem Leben wieder auftaucht. Vielleicht bleibt ein Teil von ihr für immer in Israel.
Auf jeden Fall lässt sie persönliche Sachen, viele Gemälde und Zeichnungen in Itins Wohnung in Tel Aviv zurück, was wir in einem Brief von 1950 aus Dresden erfahren.
„(…) Wir die Juden bauen heute ein neues Haus, gleichzeitig kehren wir zu den alten Zeiten zurück. Daher greifen wir auf die Tradition zurück, die uns schon aus den Händen geglitten ist. (…)“. „(…) Das Land hat uns ein neues, starkes Lebensgefühl gegeben. (…) erzeugt das Gefühl (…) des Zuhauseseins, Freude in unserem Heim (…). Dies ist das Land unserer Hoffnung, das Land, um das wir kämpfen (…)“.
„Auch ich wäre heute, ohne Hans, nie von Israel weggegangen, trotz allem, (…).“
Nach der israelischen Staatsgründung 1948 ist das Land zwar politisch eher sozialistisch orientiert, aber warum will Lea unbedingt, ähnlich wie mein Großvater und meine Großmutter, zurück in ein komplett zerstörtes Land, in dem ihre Verwandten und Freund*innen verfolgt und ermordet wurden? Sie macht sich Sorgen, ob in einem solchen Nachkriegsland ihre Kunst überhaupt angenommen wird. Nachdem sie 1948 Israel, ihre Freunde und damit auch ihren Vater und ihre Schwester verlässt, kehrt sie nie wieder dorthin zurück. Ihr anscheinend wichtigstes Motiv, Israel zu verlassen, ist Hans Grundig, von dem sie viele Briefe erhält. Sein erster Brief ist dabei grundlegend:
„Dresden, Ende März 1946 Meine liebste Lea! Ich bin zu Hause und gesund und habe jetzt nur noch einen großen Wunsch, dass auch Du bald wieder bei mir wärst. Schrecklich, qualvoll waren die vergangenen Jahre, ohne jede Aussicht, je wieder die Heimat und Dich zu sehen. Dass ich noch lebe, es ist mir ein unfassbares Wunder. (…) Oft gehe ich jetzt die Wege, die wir zuletzt gegangen sind, und voller Schmerz erinnere ich mich Deiner. Ich erinnere mich, (…) als ich Dich das allerletzte Mal sah. Du weißt es nicht. Es war im Gefängnis. Du kamst gerade die Treppe, die eiserne, herauf, von einem Verhör, das Du hinter Dir hattest. Du sahest so blass aus und voller Trauer. Deine Bewegungen waren voller hilfloser Verzweiflung. Lea, ich konnte Dich sehen, durch das kleine Guckloch an der Tür. Ich habe lange geweint damals. (…) Damals ging die Welt für mich zugrunde. Nichts mehr hatte ich, an nichts mehr glaubte ich.“
Hans schreibt weiter, dass er eine Karte von einem Freund ins KZ bekommen hat, der Text ist codiert und gedichtet, nicht mal die Gestapo hat herausgelesen, dass Lea ihr Leben hatte retten können. Darin stand, dass Lea in einem anderen Land lebt. Ab diesem Moment wurde es wohl leichter für Hans, weiterzuleben. Er schreibt auch, dass Lea das für sie bestimmte Konzentrationslager Ravensbrück nicht überlebt hätte. Er berichtet, dass sie nicht wussten, dass der Faschismus solche Reserven hat. Er erklärt weiter, dass er auf sie wartet und sie liebt, dass beider Kunstarbeiten erhalten geblieben sind. Freunde haben sie gerettet. Sie solle wiederkommen, er brauche sie, ihre Wärme und Liebe. „Wir brauchen Deine Arbeit!“, schreibt er, und dass er die Akademie der Künste wieder aufbaue, die bald eröffnet werden solle. Es gebe eine Ausstellung, in der er seine und Leas Bilder neben anderen Künstler*innen zeigen werde. Er schreibt ihr, dass er Leiter der Akademie werden soll und er gerade junge Künstler*innen – den Nachwuchs – fördern möchte und sie dazu kommen müsse: „Wenn Du kommst, hast Du Deine Heimat.“
Zu diesem Brief von Hans schreibt Lea Grundig in ihrer Autobiografie „Gesichte und Geschichte“: „(…) Und eines Tages hielt ich einen Brief in der Hand, auf dem ich die eigenwillige, geliebte Handschrift sah. (…) Zeichen, die mir unsäglich teuer und vertraut waren – es war ein Brief von Hans. Wie war es uns damals schwer gemacht worden zu heiraten. Wie hatte mein Vater Hindernisse aufgetürmt, um mich daran zu hindern. Was hatten später die Faschisten alles versucht. (…) Und nun wurde es wieder ein langer, bitterer Kampf, zu ihm zu gelangen, zu dem ich gehörte. Meine Freunde hatten Bedenken: Bist Du denn sicher, dass ihr Euch wieder so verstehen werdet, wie es war – vielleicht entstand nach so vielen Jahren eine Entfremdung? – Aber so ein Gedanke war mir überhaupt niemals, nicht eine Sekunde lang gekommen. Er machte mich einfach lachen.“
„13.03.1948 Tel Aviv Du weißt, dass dann die Engländer das Mandat hier aufgeben, und die Teilung des Landes nach dem Beschluss der UNO durchgeführt werden soll. Wie Dir bekannt ist, sind die Araber gegen einen jüdischen Staat und es ist klar, dass es zu einem jüdisch-arabischen Krieg kommen wird. (…) Außerdem besteht ein Mobilisierungsgesetz, das den bis 40Jährigen die Ausreise verbietet. Bei weiterer Verschärfung kann diese Grenze heraufgesetzt werden – und dann kann ich nicht raus. Verstehe daher, mein Liebster, warum ich Dich so drängte, weil ich vor dem Ausbruch der Kämpfe noch weg wollte. (…) Es besteht offiziell keine Zensur, aber zahlreiche Briefe habe ich geöffnet oder schlecht wieder zugeklebt erhalten. Es ist dabei schon eine Art Krieg, die ganzen letzten Monate. Man schießt die ganzen Nächte, mit Mörsern, Bomben, Explosionen hört man Tag und Nacht.“
Sie konnte gut voraussehen, dass ein Krieg kommen wird. Und sie wollte nie wieder in einer Situation sein, wie sie sie in Nazideutschland erlebt hat.
Rückkehr nach Deutschland, in die SBZ/DDR 1949. Leben und Kunst für den sozialistischen Realismus
1949 ist es nicht erlaubt, einfach aus dem neu gegründeten Staat Israel (14. Mai 1948) in den neu gegründeten Staat DDR (7. Oktober 1949) einzureisen.
„acht Jahre subtropisches Klima, und Sonne (…) – das geht nicht so leicht auf Schnee und Winter. (…) Ich habe ein großes Gefühl der Fremdheit und nur Deinetwegen kam ich zurück. Nur für Dich, für nichts sonst.“
Nachdem sie ihren israelischen Pass bekommen hat, mit dem sie die Möglichkeit erhält, auszureisen, dauert es noch neun Monate, bevor sie mit einem Flugzeug nach Prag fliegt und dort die erwähnte Ausstellung organisiert. Sie wartet dann in Prag noch vier Monate, ehe sie die Papiere für die Einreise in die DDR erhält. Erst am 9. Februar 1949 gelingt es Lea, über Prag nach Dresden zurückzukehren. Als sie am Dresdener Hauptbahnhof ankommt, wird sie von alten Freund*innen, Kolleg*innen und Politiker*innen herzlichst empfangen. Nur einer fehlt: Hans ist zu dieser Zeit schwer an Tuberkulose erkrankt, eine Folge seiner Gefangenschaft im Konzentrationslager Sachsenhausen. Er befindet sich in einem Sanatorium im Südharz. Lea besucht ihn einige Tage später. Nach ihrer Ankunft sieht Lea das ganze Ausmaß der Zerstörung des bombardierten Dresdens, obwohl der Krieg bereits fast vier Jahre beendet ist. Sie besucht ganz alleine das Atelier von Hans in der stehengebliebenen Akademie der Künste. Sie betrachtet Hans Grundigs Gemälde und sieht zum ersten Mal das Gemälde „Karneval“, das sie besonders stark beeindruckt. Danach erst fährt sie ins Sanatorium. In ihrer Biografie schreibt sie dazu: „Fast eines Tages Länge dauert die Fahrt. Es geht auf den Abend zu, und ich bin in Sülzhayn angekommen. Ich renne erst einmal in ein falsches Haus, stürze die Treppe hinauf. Nein, hier ist er nicht. Dort, in jenem Haus. – Und dann steht er vor mir, mein alter, grauer Hans. Krank ist er, und in seinem schmalen Gesicht steht noch die furchtbare Spannung schrecklicher Jahre. Sein Haar ist schneeweiß - aber sein gerader Mund lächelt noch immer.“
Hans Grundig wird der erste Rektor der Kunstakademie nach dem Krieg. Ihm folgt recht bald der Architekt Mart Stam, der Lea trotz ihrer Berufung nicht einstellt. Lea und Hans geraten schon bald in die „Formalismus-Debatte“,
Ihre Expertise im Bereich von Grafik, Malerei und Zeichnung ist unbestritten, und viele ihrer Studierenden profitieren von ihrer technischen Präzision und ihrem künstlerischen Können. Sie kann ihr Wissen und Können den Studierenden gut vermitteln. Sie lehrt sie künstlerische Verantwortung zu übernehmen und sich mit den sozialen und politischen Aspekten ihrer Kunst auseinanderzusetzen. Ihr zutiefst humanistisches Grundverständnis und ihre eigene Bescheidenheit kommen vor allem in ihrem immer wiederholten Vorsatz zum Ausdruck:
„Jeder Mensch besitzt die Fähigkeit, Kunst zu verstehen…“.
Das sozialistische Projekt ist für sie ein Lebensziel. Sie ist überzeugt davon, dass der kommunistische Weg die Vision einer besseren Gesellschaft darstellt. In dieser Hinsicht ist sie, trotz der politischen Einschränkungen, fest in ihrer ideologischen Ausrichtung verankert und sieht sich als Teil des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Ihre künstlerische Freiheit ist trotzdem von den politischen und ideologischen Vorgaben des Staates beeinflusst.
Original Bildunterschrift: Frau Professor Grundig bewohnt mit ihrem Mann eines der Häuser, die von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik für Angehörige der Intelligenz und Kulturschaffende neu erbaut wurden. Frau Professor Grundig verlässt ihr Wohnhaus. Februar 1955 (© Bundesarchiv, 183-29085-0002, Zentralbild Höhne-Pohl 22.2.1955)
Original Bildunterschrift: Frau Professor Grundig bewohnt mit ihrem Mann eines der Häuser, die von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik für Angehörige der Intelligenz und Kulturschaffende neu erbaut wurden. Frau Professor Grundig verlässt ihr Wohnhaus. Februar 1955 (© Bundesarchiv, 183-29085-0002, Zentralbild Höhne-Pohl 22.2.1955)
1950 ziehen Lea und Hans nach Strehlen in ein Einfamilienhaus mit Garten, wo Lea bis zu ihrem Tod lebt. Leider muss Hans schon nach einem Jahr wegen seines schlechten Gesundheitszustandes infolge seiner vierjährigen Haft im KZ Sachsenhausen aus der Hochschule ausscheiden. Ich frage mich, was macht Hans Grundig eigentlich in der Zeit, in der Lea an der Hochschule lehrt? Kann er noch malen? Arbeitet er von zu Hause aus?
Die Diskussionen der Kunstrichtungen gehen indessen an der Hochschule weiter. In diesem Kontext werden Leas Arbeiten kritisiert, zum Beispiel vom ersten Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl,
In der Kunstakademie in Dresden. Der griechische Kunststudent Manoussis studiert bei Frau Professor Grundig Grafik. Hier bespricht Frau Professor Grundig mit ihm eine seine Arbeiten. 22.2.1955 (© Bundesarchiv 183-29085-0003, Zentralbild, Höhne-Pohl )
In der Kunstakademie in Dresden. Der griechische Kunststudent Manoussis studiert bei Frau Professor Grundig Grafik. Hier bespricht Frau Professor Grundig mit ihm eine seine Arbeiten. 22.2.1955 (© Bundesarchiv 183-29085-0003, Zentralbild, Höhne-Pohl )
thologisch und antiästhetisch“ bezeichnet.
Mir stellt sich die Frage, wie verletzend das für Lea gewesen sein mag? Wie hat sich das gezeigt? Im Radio wird sie ebenso angegriffen. Ist das schon Antisemitismus, der in der DDR bis zu Stalins Tod 1953 ausbricht? Aber selbstbewusst und widerständig, wie sie war, widersetzt sie sich der offiziellen Lesart, was 1953 auf einer Vorstandssitzung des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands (VBK), deutlich wird. Sie sagt: „(…) man hat den Boden, auf dem wir standen und von dem wir hergekommen sind, unter unseren Füssen gesprengt (…). Man hat uns die Füße abgeschnitten, mit denen wir auf dem Boden standen, und man hat von uns verlangt, wir sollten unser gesamtes bis dahin geschaffenes Werk für begraben erklären und völlig von neuem anfangen (…). Alles, was damals gewesen ist, ist heute begraben, davon spricht man heute nicht, das ist ‚Formalismus‘“.
Diese künstlerischen Auseinandersetzungen fallen in die gleiche Zeit wie die Säuberungen in der Sowjetunion unter Stalin. Diese stalinistischen und antisemitischen Kampagnen übertragen sich 1953 für etwa ein Vierteljahr auf die DDR.
In dieser Zeit überlegt Lea auch, die DDR zu verlassen, was durch einen Ausreiseantrag nach Schweden belegt werden kann. Nachweislich verlässt sie die DDR aber nie. Letztendlich entscheidet sie sich dafür, sich beim Aufbau des Sozialismus zu engagieren und höhere Ämter zu übernehmen, wie zum Beispiel als Abgeordnete im Sächsischen Landtag. 1950/51 wird sie zur Professorin an der Kunsthochschule Dresden berufen. Von 1964 bis 1970 wird sie Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler der DDR (VBK), einer einflussreichen Institution, die die Kunstpolitik des Staates mitgestaltet.
Zusätzlich finde ich in ihrer Stasi-Akte, dass Lea und Hans Grundig ein „konspiratives Zimmer“ in ihrem Haus für die Staatssicherheit zur Verfügung stellen.
Leas künstlerische Arbeit fängt an, sich zu ändern. Sie besucht Kohle- und Stahlwerke und zeichnet die Menschen bei der Arbeit. Fortan nehmen Arbeitermotive – den Anforderungen des sozialistischen Realismus entsprechend – einen größeren Raum in ihren künstlerischen Werken ein. 1951 entsteht ein neuer Deutschlandzyklus: „Kohle und Stahl für den Frieden“.
Am 17. Juni 1953 kommt es in der gesamten DDR zu einem Volksaufstand. Es ist ein landesweiter Streik mit Demonstrationszügen der Arbeiter und der Bevölkerung, die sich gegen die von Walter Ulbricht erlassenen Verordnungen zur Normerhöhung richten. Die Arbeiter sollen länger arbeiten, ohne Lohnerhöhung. Dies fällt mit einer Lebensmittelkrise zusammen, die die Bevölkerung hart trifft. Die auf dem 2. Parteitag der SED verkündeten Gesetze zum „erfolgreichen Aufbau des Sozialismus“ erscheinen vielen in diesem Zusammenhang zynisch und führen zur Empörung unter der Bevölkerung. Der Aufstand wird von der sowjetischen Besatzungsmacht mithilfe von Panzern gewaltsam niedergeschlagen. Es gibt mindestens 50 Tote.
Hans nimmt öffentlich gegen das Vorgehen der SED und der sowjetischen Besatzungsmacht Stellung. Über Stellungnahmen von Lea ist mir nichts bekannt, doch macht dieses Ereignis auf die Spannungen dieser Zeit aufmerksam, denen auch sie ausgesetzt ist. Der Aufstand führt in der DDR zu einer veränderten politischen Landschaft, in der das Vertrauen zwischen Regierung und Kulturschaffenden und Intellektuellen empfindlich gestört ist. In den Jahren nach dem Aufstand wird die Überwachung und Kontrolle durch die Stasi verschärft.
Hans Grundig steht als linksgerichteter Künstler in den ersten Jahren der DDR unter dem Schutz der Regierung, da seine Werke die sozialistischen Ideale widerspiegeln. Aber auch er muss sich mit der politischen Kontrolle und der Überwachung durch die Stasi auseinandersetzen, insbesondere, als er sich zunehmend gegen den Stalinismus und die Repression in der DDR stellt. Es gibt Berichte, dass Hans Grundig nach dem Volksaufstand 1953 und angesichts der zunehmenden politischen Repression in der DDR in Konflikt mit der Regierung gerät. Insbesondere seine Haltung und seine kritischen Äußerungen zur stalinistischen Politik könnten die Stasi auf ihn aufmerksam gemacht haben.
Im Falle Lea Grundigs könnte die Überwachung auch ein Instrument gewesen sein, um sie von kritischen Äußerungen gegenüber der DDR-Führung, besonders im Ausland, abzuhalten. Die Stasi beobachtet Künstler*innen wie sie, weil sie im internationalen Kontext als Symbol für die DDR-Kunst wirken sollen, aber auch als mögliche Quellen für subversive oder kritische Beeinflussung aus dem Westen benutzt werden könnten. Es ist ambivalent und paradox, dass jemand, der mit ganzer Überzeugung für den Sozialismus und Kommunismus kämpft, unter der Überwachung der Stasi steht. Es zeigt, wie das System DDR, obwohl es sich selbst als antifaschistisch und proletarisch verstand, in der Praxis paranoide Züge annimmt und in einer Atmosphäre des Misstrauens agiert. Der Idealismus des Sozialismus, den Menschen wie Lea und Hans Grundig vertreten, wird letztlich permanent infrage gestellt.
Bis 1957 beklagen sich Lea und Hans Grundig über den Boykott ihrer Arbeiten. Auf der einen Seite haben beide mit Sicherheit große Zweifel und Ängste, ob sie ihre Arbeit und ihr Leben als Künstler*innen in der DDR uneingeschränkt weiterführen können, auf der anderen Seite sehen sie aber auch die Möglichkeit, ihre politischen und sozialistischen Ideale künstlerisch umzusetzen. Sie entscheiden sich dafür, trotz aller Anfeindungen und Schwierigkeiten in der DDR zu bleiben, während Hunderte andere jüdische Bürger*innen aus der DDR fliehen und das Land verlassen. Aber was mussten sie dafür der DDR geben? Lea illustriert in jener Zeit, von 1952 bis 1954, die Märchen der Gebrüder Grimm in drei Bänden, mit 400 Federzeichnungen und mit vielen Auflagen im Kinderbuch-Verlag Berlin. Mit diesen Zeichnungen macht sie durch eine Reihe von Gleichnissen symbolisch auf die Widersprüche der 1950er-Jahre in der DDR aufmerksam. Trotz der Probleme hat Lea eine recht komfortable Auftragslage. Gleichzeitig muss sie jedoch mit den antisemitischen Tendenzen innerhalb des Staates und der Gesellschaft umgehen. Wie tut sie das? Als jüdische Künstlerin in der DDR ist sie mit der Tatsache konfrontiert, dass der Antisemitismus in der DDR nicht vollständig verschwunden ist. Was im Übrigen in der Bundesrepublik ebenso traurige Realität war.
Die Tuschezeichnung von Lea Grundig zeigt fröhliche, aufgeregte und konzentriert zusehende Kinder eines Stücks in einem Kasperle-Theater. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Die Tuschezeichnung von Lea Grundig zeigt fröhliche, aufgeregte und konzentriert zusehende Kinder eines Stücks in einem Kasperle-Theater. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Der „Klub der Intelligenz“ im Lingner Schloss in Dresden
Am 23. März 1957 eröffnet der berühmte Krebsforscher Manfred von Ardenne
Dort werden Kunst- und Kulturdebatten, Ausstellungen, Lesungen und politische Diskussionen veranstaltet. Lea Grundig ist im „Klub der Intelligenz“ als Künstlerin und Kulturfunktionärin eine wichtige Persönlichkeit. Sie nimmt an Diskussionen über Kunst, Kultur und Politik teil und hält Vorträge. Hochrangige DDR-Kulturfunktionäre treffen sich dort, wie zum Beispiel Hans Grundig, Wilhelm Lachnit,
Der Tod von Hans Grundig und Ehrungen
1957/58 arbeitet Lea an dem Grafikzyklus „Kampf dem Atomtod“. Seit Beginn der 1950er-Jahre setzt sie sich in ihren Werken mit den Themen Faschismus, Militarismus und atomare Bedrohung auseinander. Im Dresdener Albertinum stellen Lea und Hans zum ersten Mal in einer gemeinsamen Ausstellung 1958 aus. Am 11. September stirbt Hans Grundig. Im selben Jahr erscheint Leas Autobiografie „Gesichte und Geschichte“. Im Oktober 1958 erhalten beide (er posthum) den Nationalpreis II. Klasse der DDR. 1961 wird Lea Grundig Mitglied der deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin. Auf dem VI. Parteitag der SED 1963 wird sie zum Mitglied des Zentralkomitees der SED (ZK) gewählt. 1963 bis 1967 entsteht ein Zyklus mit Handzeichnungen.
Bildausschnitt/Original-Bildunterschrift: In Karl-Marx-Stadt [heute Chemnitz] hat am 28.5.74 der VII. Kongreß der bildenden Künstler der DDR seine Arbeit aufgenommen. (...) In der ersten Reihe des Präsidiums hatten Platz genommen (v.l.n.r.): Prof. Walter Womacka, Prof. Fritz Cremer, Prof. Lea Grundig, Paul Roscher, Horst Weiß, Kurt Hager, Prof. Willi Sitte, Hans-Joachim Hoffmann, Edith Brandt, Gerhard Voigt und Prof. Erich John. (© Bundesarchiv, 183-N0528-405, ADN/Zentralbild, Wolfgang Thieme )
Bildausschnitt/Original-Bildunterschrift: In Karl-Marx-Stadt [heute Chemnitz] hat am 28.5.74 der VII. Kongreß der bildenden Künstler der DDR seine Arbeit aufgenommen. (...) In der ersten Reihe des Präsidiums hatten Platz genommen (v.l.n.r.): Prof. Walter Womacka, Prof. Fritz Cremer, Prof. Lea Grundig, Paul Roscher, Horst Weiß, Kurt Hager, Prof. Willi Sitte, Hans-Joachim Hoffmann, Edith Brandt, Gerhard Voigt und Prof. Erich John. (© Bundesarchiv, 183-N0528-405, ADN/Zentralbild, Wolfgang Thieme )
1964 bis 1970 wird sie Präsidentin des Verbandes der bildenden Künstler der DDR. Lea reist in die Schweiz, um Radierplatten zurückzuholen, die in den 1930er-Jahren dort zurückgeblieben sind. Ein benachbarter Maler aus der Ostbahnstraße hatte diese damals gerettet. 1972 erhält sie an der Greifswalder Universität die Ehrendoktorwürde. Bei diesem Festakt begleitet sie mein Vater. Sie stiftet 1972 den „Hans-und-Lea-Grundig-Preis“, der bis heute an Künstler*innen mittlerweile unter der Schirmherrschaft der Rosa-Luxemburg-Stiftung verliehen wird.
Spätes Künstlerisches Schaffen, privilegiertes Reisen, Freundschaft mit Maria Heiner und Leas Tod während einer Seereise auf dem Schwarzen Meer
1974 stellt Lea Grundig ihren nächsten Zyklus, den „Chile-Zyklus“, aus. Sie ist erschüttert, dass die Regierung von Salvador Allende von Augusto Pinochet brutal gestürzt wird und dass in Chile Faschismus wieder möglich wird. Sie fertigt zu diesem Thema beeindruckende Lithografien an, wobei sie Elemente aus ihrer früheren Widerstandskunst wieder aufnimmt.
Außerdem arbeitet Lea in dieser Zeit an dem Bauernkriegszyklus von 1525. Meine Mutter erzählt, dass Lea und sie oft leidenschaftlich über dieses historische Ereignis diskutierten. Für Lea Grundig ist der Bauernkrieg ein Schnittpunkt in der deutschen Geschichte und begründet die revolutionäre Tradition Deutschlands. Meine Mutter studiert zu dieser Zeit Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin und der Bauernkrieg ist für sie, so wie für Lea, ein sehr wichtiges Thema.
Lea Grundig bei einem Spaziergang in den 1970er-Jahren (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Lea Grundig bei einem Spaziergang in den 1970er-Jahren (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Nachdem Hans 1958 verstorben ist, wirkt es so, als würde Lea das Reisen nutzen, um sich von Hans‘ Tod abzulenken. Sie reist in sozialistische Länder wie China, Vietnam, die Sowjetunion, Kuba, Rumänien, Ungarn, die Tschechoslowakische Republik, aber auch in kapitalistische Länder wie Italien, Österreich und die Schweiz, was für die Mehrheit der DDR-Bürger unmöglich ist. Diese Reisen ins westliche Ausland sind ein großes Privileg für Lea.
So darf sie zum Beispiel in Italien ausstellen, trotz dessen NATO-Mitgliedschaft. Sie veranstaltet im Ausland zahlreiche Ausstellungen, hält Vorträge und ist auf internationalen Kunst- und Kulturveranstaltungen präsent. 1975 reist sie in die Sowjetunion und begleitet ihre Ausstellungen in Riga, Vilnius und Minsk. In Riga trifft sie sich mit ihrem alten Freund Avi Shaul, der aus Israel angereist kommt. Wie ist wohl diese letzte Wiederbegegnung? Worüber sprechen sie? Über die Politik in Israel und der DDR?
Lea Grundig und ihre Ärztin und Freundin Maria Heiner, 1970er-Jahre. (© Privatbesitz von Esther Zimmering)
Lea Grundig und ihre Ärztin und Freundin Maria Heiner, 1970er-Jahre. (© Privatbesitz von Esther Zimmering)
Hier taucht Maria Heiner auf, die eine enge Begleiterin und Vertraute in Leas Leben wird. Auf Fotos und Portraits erkenne ich Maria immer wieder. Maria spielt nach dem Tod von Hans Grundig eine wichtige Rolle in Leas Leben, insbesondere in den letzten Jahren. Maria Heiner ist auch an der Seite von Lea Grundig, als diese 1977 stirbt. Sie begleitet sie, nicht nur als persönliche Freundin, sondern auch als jemand, der sich mit Lea Grundig intensiv auseinandergesetzt hat und ihre Werke bis heute sammelt, ausstellt und würdigt. Am 10. Oktober 1977 verstirbt Lea auf dem Schwarzen Meer, auf einer Reise mit der „MS Völkerfreundschaft“, als sie an Konstanza (Rumänien) vorbeifahren.
Am 21. Oktober 1977 wird Lea Grundig neben Hans im kleinen Ehrenhain der Kämpfer gegen den Faschismus auf dem Heidefriedhof in Dresden beerdigt. Meine Eltern sind bei der Beerdigung dabei. Lea hat ihren Vater und ihre Schwester Marie in den ganzen Jahren nie wiedergesehen. Im gleichen Jahr, als Lea stirbt, werde ich geboren.
Die Beisetzung von Lea Grundig die blonde Frau mit den Blumen ist die Mutter von Esther Zimmering und rechts daneben der Mann in der Uniform ist der Vater von Esther Zimmering. Das Foto wurde 1977 auf dem Dresdener Heidefriedhof aufgenommen. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Die Beisetzung von Lea Grundig die blonde Frau mit den Blumen ist die Mutter von Esther Zimmering und rechts daneben der Mann in der Uniform ist der Vater von Esther Zimmering. Das Foto wurde 1977 auf dem Dresdener Heidefriedhof aufgenommen. (© Privatbesitz der Familie Zimmering)
Wie wird Lea Grundig heute rezipiert? Wahrnehmung unter jungen Menschen
Insgesamt wird Lea Grundig heute als bedeutende Künstlerin des 20. Jahrhunderts anerkannt, deren Werk
Tuschezeichnung von Lea Grundig aus dem Jahr 1971 mit Kindern unterschiedlicher Hautfarben. (© Privatbesitz)
Tuschezeichnung von Lea Grundig aus dem Jahr 1971 mit Kindern unterschiedlicher Hautfarben. (© Privatbesitz)
weiterhin Relevanz besitzt. Aufgrund ihres Lebens in verschiedenen Welten und der damit verbundenen Ambivalenzen zwischen Widerstand und Anpassung steht sie immer wieder im Fokus einer kontinuierlichen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kunstverständnissen und Stildebatten unterschiedlicher Provenienz. Es erweist sich als besondere Herausforderung, ihre Vielschichtigkeit und synkretistische
Nach dem Mauerfall werden einige Bilder davon abgehängt und in der Akademie der Künste (ADK) eingelagert. Heute befindet sich ein großer Teil des Nachlasses von Lea Grundig im Archiv der ADK in Berlin und in Dresden, aber auch in Washington im Archiv des United States Holocaust Memorial Museum, in Yad Vashem und in einigen Kibbuzim in Israel – und neuerdings auch im Archiv des Jüdischen Museums in Berlin.
In Eberswalde gab es im Frühjahr 2025 eine Ausstellung, die sich erstmalig in Deutschland mit ihren Werken aus Palästina beschäftigt hat und in einem vielseitigen Katalog den neusten Forschungsstand berücksichtigt. Erstmalig wird hier ihre Zeit in Palästina/Eretz Israel von der Kunstgeschichte in den Blick genommen und gezeigt.
In der breiten und jüngeren Bevölkerung ist ihr Werk nicht sehr bekannt, was ich mit meinem Dokumentarfilm gerne ändern möchte, um ihre Kunst und Lebensgeschichten, mit all ihren Facetten und Widersprüchen, für ein junges Publikum aufzuschließen. In Kunsthochschulen und historischen Studiengängen wird ihr Werk analysiert und diskutiert. Ihre Rolle in der DDR-Kulturpolitik und ihr Leben und Wirken in Israel führen zu differenzierten Bewertungen und zu unterschiedlichen Interpretationen. Einige sehen in ihr eine Künstlerin, die ihre Kunst in den Dienst der Partei und des DDR-Staates gestellt hat, während andere ihre Werke als Ausdruck eines tiefen antifaschistischen und humanistischen Engagements würdigen.
Diese unterschiedlichen Sichtweisen führen auch zu einer komplexeren Debatte über die historische Bewertung von Lea Grundigs Rolle in der DDR und in Israel. Diesen Aspekt finde ich besonders spannend. In jüngster Zeit gibt es Bestrebungen, Leas Werk im Kontext von Erinnerungskultur und Geschichtsaufarbeitung neu zu bewerten. Die Diskussion um die Benennung einer Straße in Dresden nach der Künstlerin Lea Grundig führte in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren zu intensiven Debatten. Im April 2021 schlug der Stadtbezirksbeirat Dresden-Altstadt vor, eine neu entstehende Verkehrsfläche „Lea-Grundig-Straße” zu nennen. Dieser Vorschlag stieß jedoch auf immensen Widerstand. Grund für die Bedenken war ein Gutachten des Kurators des Dresdner Stadtmuseums, Holger Starke, der Lea Grundigs Rolle in der DDR, insbesondere wegen ihrer Zusammenarbeit mit der Stasi, kritisch betrachtet. Die Stadt Dresden beauftragte ein weiteres Gutachten, das von den Historikerinnen Jeanette van Laak und Lisa Weck von der Universität Halle-Wittenberg erstellt wurde. Dieses Gutachten beleuchtet Lea Grundigs Leben umfassend. Besonders hervorgehoben werden die Ambivalenzen in ihrem Wirken als Künstlerin und Kulturfunktionärin in der DDR sowie ihre Erfahrungen mit Ausgrenzung, Antisemitismus und Verfolgung in verschiedenen politischen Systemen. Die Meinungen darüber bleiben trotzdem geteilt: Einige sehen in der Benennung einer Straße nach Lea Grundig eine Würdigung ihrer künstlerischen Leistungen und ihres antifaschistischen Widerstandes und Engagements. Andere kritisieren ihre Rolle innerhalb des DDR-Systems und werfen die Frage auf, ob eine solche Ehrung angemessen sei. Diese Debatte verdeutlicht die Komplexität der Auseinandersetzung mit historischen Persönlichkeiten, die sowohl Opfer von Verfolgung als auch Funktionäre autoritärer Systeme gewesen sind. In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler*Innen und Forschungsinstitutionen das Leben und Werk von Lea und Hans Grundig wieder verstärkt zum Forschungsgegenstand gemacht und erneut rezipiert – so wie es Maria Heiner seit langem tut. Lea Grundigs Werke bleiben ein bedeutendes Erbe der antifaschistischen Widerstandskunst, des Aufbruchs der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina/Eretz Israel und Zeugnis des sozialistischen Realismus, das durch ihren ganz persönlichen Stil und die eigene Sichtweise einer jüdischen Sozialistin geprägt ist.
Zitierweise: Esther Zimmering „Meine Verwandte Lea Grundig. Ein Porträt“, in: Deutschland Archiv, 17.6.2025, Link: www.bpb.de/562978.
Im Jahr 2023 haben wir auch ein
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geboren 1977 in Potsdam, sie studierte nach dem Abitur an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin. Nach ersten Engagements am Theater spielte sie in vielen Filmen und erhielt Auszeichnungen, wie 2003 den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie „Beste Nachwuchsdarstellerin“ für den TV-Mehrteiler „Der Liebe Entgegen“. 2019 kam ihr erster Dokumentarfilm „Swimmingpool am Golan“ in die Kinos und 2023 drehte sie als Auftragsarbeit für das Jüdische Museum Berlin den Film „Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor“.